Immer mehr rückt die Frage in den Vordergrund wie sich in Zukunft an die Shoa erinnert werden soll. Nur noch wenige Überlebende können selbst von ihren Erfahrungen der deutschen Verbrechen sprechen. Es bleiben literarische Zeugnisse und Videointerviews. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum widmet sich derzeit in einer Wechselausstellung dieser Frage. Die Ausstellung wurde vom Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg entwickelt und vom NS-Dokumentationszentrum inhaltlich adaptiert und um regionale Zeitzeugnisse erweitert. Gefördert wurde sie unter anderem aus Mitteln der Stiftung „Erinnerung Verantwortung und Zukunft“ (EVZ). Die Wanderausstellung ist noch bis zum 14. November im NS-Dokumentationszentrum München zu sehen. Teile der Ausstellung sind auch online auf der Seite der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zu sehen.
In der Ausstellung wird sich der Frage gewidmet, wie zukünftig mit dem Erbe der Zeitzeug*innen umgegangen werden soll. Was wird mit den Interviews von Überlebenden geschehen, wenn sich diese nicht mehr selbst zu Wort melden können? Welchen Stellenwert werden die gesammelten Zeugnisse zukünftig einnehmen? Welche Verantwortung haben Institutionen? Welche Funktion übernehmen die Zeugnisse in der Bildungsarbeit? Können digitale Angebote die Begegnungen mit Zeitzeug*innen kompensieren? Um diesen Fragen näher zu kommen, ist die Ausstellung in vier Abschnitte geteilt.
Heute begegnen wir Interviews mit Zeitzeug*innen vor allem in Medienformaten, in denen das Interview als ganzheitliches Produkt zu sehen ist. Die Entstehung bleibt dabei verborgen. Die Ausstellung beginnt mit einem Zusammenschnitt aus der Sammlung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und dem Archiv der University of South California, der Medienwerkstatt Franken und dem USC Shoah Foundation Institute.
Es soll gezeigt werden, dass das Interview, wie wir es schlussendlich zu sehen bekommen, nur einen bestimmten Teil des Gesamtprozesses wiedergibt, für den sich bewusst entschieden wurde. Es wird als ganzheitliches Produkt präsentiert, lässt allerdings die Entstehung solcher Produktionen aus. Die Ausstellung weist hiermit auf Störungen hin, die wir im fertigen Produkt nicht zu sehen bekommen, aber oft mehr über die Gesprächspartner verraten als das eigentlich Gesprochene. Beide Seiten haben gewisse Erwartungen an das Interview.
Die Ausstellung versucht hier einen Blickwechsel. Damit bezieht sie sich vielmehr auf die Interviewer*innen. Bei mehrfachem Nachfragen oder Unterbrechen einer Erzählung zeigt sich nicht nur, dass das Interview auf ein konkretes Narrativ ausgelegt ist, sondern auch wie die Bedürfnisse der Gesprächspartner*innen übergangen werden, die über manches vielleicht nicht reden können oder wollen.
Mögen sich die Zeugnisse in gewisser Weise auch ähneln, gleicht keine Erzählung der anderen. Jedes dieser Zeugnisse ist geprägt von den Erlebnissen der Interviewten. Sie erzählen ihre fragmentarischen Erinnerungen assoziativ. Der Inhalt der Erzählung ist das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den Interviewpartner*innen. Im zweiten Ausstellungsbereich werden uns ausgewählte Interviews vorgestellt. Die Videos, die aus dem Sammlungsbestand der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg stammen, zeigen beispielhaft, wie das Erlebte, die Erinnerung an den Nationalsozialismus, seine Verbrechen sowie dessen Vor- und Nachgeschichte erzählerisch unterschiedlichen Ausdruck findet. Die neun Interviewsequenzen sind versehen mit Überschriften, die eine Art von Funktion des Gesprächs andeuten sollen. So ist das Gespräch mit Abba Naor beispielsweise mit „Selbsttherapie“ betitelt. Zu seinem Video erklärt ein Begleittext welchen Wert es für Herrn Naor hat, über das Erlebte zu sprechen. Für ihn läge die Bedeutung darin, dass das darüber Sprechen auch einen Weg zur Verarbeitung des Erlebten bedeute, so die Kurator*innen der Ausstellung.
Überlebende gründeten bereits 1944 die Historische Jüdische Kommission in Lublin. Sie sammelten Zeugnisse von Überlebenden der Ghettos, der Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch Erinnerungen an die zerstörten jüdischen Gemeinden und Beweismaterial gegen NS-Täter und Täterinnen. Zwischen 1944 und 1947 haben sie Hunderte von Interviews mit Überlebenden geführt. In der Öffentlichkeit haben diese Interviews lange Zeit keine Bedeutung gespielt. Erst Anfang der 1990er Jahre wurden diese Arbeiten international wahrgenommen. Der dritte Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit dem Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Dabei werden bestimmte historische Ereignisse betont. So zum Beispiel die erste filmische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, „Lang ist der Weg“ von 1948. Der Film thematisiert das Trauma der Überlebenden und suggeriert gleichzeitig, dass die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nur in dem noch nicht existierenden Staat Israel liegen kann. In der öffentlichen Wahrnehmung erlang der Film keine große Bedeutung.
Im Jahr 1961 stand Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Über den Prozess wurde weltweit im Fernsehen berichtet. Die Ausstellung zeigt, dass im Unterschied zu den Frankfurter Auschwitz Prozessen, erstmals die individuellen Erlebnisse der Überlebenden im Mittelpunkt stehen.
Im April 1978 veröffentlichte der amerikanische Fernsehsender NBC die Miniserie „Holocaust“. In der BRD wurde sie 1979 ausgestrahlt und führte zu heftigen Protesten. Die enormen Einschaltquoten führten dennoch dazu, dass die Serie zu einem Medienereignis wurde und die NS-Geschichte in die deutschen Wohnzimmer brachte. Spätestens ab hier war ein Wechsel in der öffentlichen Wahrnehmung und eine Auseinandersetzung um die Shoah festzustellen. Kritik gab es jedoch auch von Überlebenden wie unter anderem Eli Wiesel, der dem NBC vorwarf, die Serie vor allem aus kommerziellen Interessen produziert zu haben.
Zuletzt wird anhand des Films Schindlers Liste von 1993 dargestellt, wie sich ab da an ein „Erinnerungsboom“ auslöste, wie es in der Ausstellung selbst genannt wird. Nicht nur dass viele Überlebenden ihre Geschichten aufschrieben, es entstanden in der Folge auch unzählige Spielfilme, TV-Dokumentationen und Zeitzeug*inneninterviews. Auch Opfergruppen, für die es bis dahin wenig oder keinen Raum gegeben hat, traten jetzt in die Öffentlichkeit.
Am Ende der Ausstellung steht die Frage, wie mit dem Erbe der Zeitzeug*innen umgegangen werden kann. Ein Kamerateam dokumentiert die Produktion eines „interaktiven Hologramms“ der Holocaust-Überlebenden Eva Schloss. Besucher*innen bekommen die Möglichkeit, ein Gespräch mit ihr nachzustellen. Die 3D-Projektion der Überlebenden antwortet auf die Fragen der Besucher*innen.
Es bietet die Möglichkeit eines partizipativen Umgangs mit der Geschichte.
Prof. Dr. Michele Barricelli von der Ludwig-Maximilians-Universität München gab bei der erst kürzlich erschienenen Memo-Studie zu Wort, dass es beim Umgang mit der Geschichte darum gehen sollte, die individuellen Zugänge zu verstehen und wertzuschätzen, die Menschen sich selbst zur Auseinandersetzung mit der Geschichte schaffen. Das heißt, dass neue Möglichkeiten weiter erarbeitet und gefördert werden müssen. Erinnerung, so Barricelli, sollte partizipativ und divers sein.
Die Umfragen der Memo-Studie haben ergeben, dass sich ein Altersunterschied im Umgang mit der Shoa erkennen lässt. Während sich ältere Menschen eher über Sachbücher und Romane informieren, spielt für Jüngere vor allem das Internet eine große Rolle. Zeitzeug*innenschaft ist also nicht am Ende. Es müssen neue Formate gefunden werden, in denen sie in Zukunft weiterleben können. Die Übersetzung in neue Formate bedeutet damit automatisch auch jedes Mal wieder eine intensive Auseinandersetzung mit den Zeitzeug*innenberichten.
Die Ausstellung gibt keine Antwort. Sie zeigt die Entstehung und Rezeption von Zeitzeug*inneninterviews im Laufe der Geschichte und gibt zum Schluss mit dem Hologramm eine Möglichkeit, wie mit dem Erbe umgegangen werden kann. Sie bieten einen guten Überblick, ohne überladen zu sein, und regt einmal mehr die Dringlichkeit an, dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen müssen. Gleichzeitig zeigt sie, wie vielfältig die Formen sind, in denen die Geschichten der Überlebenden verarbeitet wurden. Die Frage, die der Titel der Ausstellung aufwirft, muss letztlich negiert werden. Wir befinden uns nicht am Ende der Zeitzeug*innenschaft. Die Ausstellung stellt dar, inwiefern die Zeugnisse über die Jahrzehnte über verschiedene Medien vermittelt wurden und dies auch weiterhin werden. Dabei lässt sich deutlich ein Wandel des Begriffs „Zeitzeugenschaft“ erkennen. Die Frage bleibt jedoch offen, wie sich in Zukunft mit Zeitzeug*innenschaft auseinandergesetzt werden kann oder sollte.