Der aktuelle und 19. Band der ein- bis dreijährlich erscheinenden „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ befasst sich im Schwerpunkt mit der alliierten Strafverfolgung von NS-Verbrechen, mit einem Fokus auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre. In den Beiträgen werden sowohl Rechtsgrundlagen, die Rolle von KZ-Überlebenden als auch die Verteidiger der alliierten Prozesse thematisiert.
In weiteren Texten werden unter anderem aktuelle Forschungsprojekte, Ausstellungen bzw. Bildungsorte und Fachliteratur vorgestellt. An dieser Stelle soll nur auf den Schwerpunkt der Publikation eingegangen werden.
In den beiden einleitenden Beiträgen des Bandes fassen Wolfgang Form und Dmitrij Astaschkin jeweils Kriegsverbrecherpolitik der westlichen Alliierten und in der Sowjetunion zusammen. Spannend ist, dass Form die Verfahren über Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg und die alliierten Planungen für einen juristischen Umgang mit NS-Verbrechen schon ab 1942 aufgreift. Im Weiteren setzt sich Form mit den Prozessen in den jeweiligen Westzonen und den dahinter stehenden Ansätzen vor allem quantitativ auseinander. Im Besonderen ist dabei interessant auch über die Verfahren auf französischem Staatsgebiet zu erfahren und anhand einer Zusammenstellung der britischen Verfahren zu sehen, dass in den Prozesse nach nur ein bis vier Prozesstagen ein Urteil gefällt wurde.
Auch Astaschkin befasst sich bereits mit Ereignissen vor 1945, etwa den ersten Prozessen um NS-Gewaltverbrechen 1943. Astaschkin geht auf die unterschiedlichen Phasen der Strafverfolgung ein, die ersten Prozesse, eine zweite Welle von Verfahren gegen deutsche Militärs ab 1947, die Übergabe von Verurteilten an ihre Herkunftsstaaten bis 1956 und die Prozesse gegen Kollaborateure. Dabei diskutiert er auch die Frage wie rechtmäßig die Prozesse in den jeweiligen Phasen verliefen und welche nationale und internationale Bedeutung und Signale in ihnen verhandelt wurden.
Eine weitere nicht-deutsche Strafverfolgungspolitik beleuchtet Alfons Adam anhand der Außerordentlichen Volksgerichte der Tschechoslowakei. Dass „Große Retributionsdekret“ diente von Juni 1945 bis Mai 1947 der juristischen Aufarbeitung. Wie in anderen Ländern juristische Überlegungen zur NS-Aufarbeitung angestellt wurden, erarbeitete auch die tschechoslowakische Exilregierung in London bereits ab 1942 eine Rechtsprechung vor. Diese sollte auch den „Verrat großer Teile der deutschsprachigen Minderheit an der Tschechoslowakei“ umfassen. Die Verbrechen im Ghetto Theresienstadt und des benachbarten Gestapo-Gefängnis, die KZ-Außenlager im Sudetengau und Protektorat waren ebenso Inhalt der Außerordentlichen Volksgerichte wie die Verbrechen an Zwangsarbeiter*innen und gegen Aufseher der „Zigeunerlager“ Lety und Hodonin. Während mehrere Verfahren in unmittelbar vollstreckter Todesstrafe resultierten, wurde in den Prozessen um Lety und Hodonin lediglich ein NS-Täter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Ein Überblick über die Prozesse in der SBZ und DDR, etwa entlang Astaschkins Forschungsfragen, wäre hier wünschenswert gewesen.
Drei Beiträge nehmen die Rechtsgrundlagen und das Vorgehen in britischen Verfahren in den Blick.
Neben einer kurzen Beschreibung des „Royal Warrant“ als Rechtsgrundlage für britische Militärjustizverfahren und dessen Anwendung in Verfahren bis 1949 von Alyn Beßmann und Reimer Möller ist vor allem der Blick auf Verfahren spannend, die außerhalb des „Royal Warrant“ liefen. Auf der Grundlage des Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurden zuerst Militärgerichte zur Schaffung von Präzedenzfällen für spätere Verfahren, ab 1947 Kontrollkommissionsgerichte mit Einbindung deutscher Gerichte beauftragt, Menschenrechtsverbrechen zu verurteilen. Christian Pöpken zeigt auf, dass die „Royal Warrant Courts“ für Verbrechen gegen britische Militärangehörige und Zivilist*innen in von Deutschland besetzten Gebieten zuständig waren, während sich mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 Verbrechen aus politischen, religiösen und „rassischen“ Gründen an deutschen oder staatenlosen Opfern verfolgen ließen. So kam es zu Prozessen angesichts von Zwangssterilisierungen von Romni oder der Zerstörung der Aachener Synagoge bei den Novemberpogromen 1938, welche wiederum als Grundlage für weitere Verfahren anderenorts dienen sollte.
Georg Hoffmann befasst sich in einem weiteren Beitrag exemplarisch mit den „Flyer Cases“ zu Verbrechen gegen die Besatzung britischer Militärflugzeuge.
Mit Verfahren zu einzelnen Verbrechensorten beschäftigen sich vier Beiträge. Sabina Ferhadbegović stellt ihrer Prozessbetrachtung eine kurze Geschichte des oft übergangenen Ustascha-Lagers Jasenovac und den dort verübten Verbrechen voran. Die Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens hielt bereits ab 1941 Prozesse ab, die regelmäßig ihren Ort wechseln mussten. In den sogenannten Jasenovac-Prozessen wurden sowohl die Verbrechen im Lager als auch das Ustascha-Regime allgemein angeklagt. Die Prozesse dienten vor allem einer Etablierung eines „Narrativ vom gemeinsamen Leiden und dem gemeinsamen Kampf des ‚jugoslawischen Volkes’ im Zweiten Weltkrieg“ (S. 61), die verfolgten Jüdinnen*Juden und Romn*ja fanden im Urteil keine Erwähnung.
Weitere Beiträge widmen sich dem Prozess zum „Ausländerkinderpflegeheim“ des Volkswagenwerkes im heutigen Wolfsburg, einem Vergleich von britischen und französischen Prozesse gegen SS-Aufseherinen des KZ Ravensbrück und dem Prozess gegen Franz Murer, einen der Verantwortlichen für den Mord der jüdischen Bevölkerung von Vilnius, der 1963 in Graz freigesprochen wurde und so beispielhaft für die „langlebige Weigerung weiter Teile der österreichischen Bevölkerung (...) eine Mitverantwortung“ für nationalsozialistische Verbrechen zu übernehmen, gilt.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Rolle von KZ-Überlebenden als Akteur*innen in Gerichtsverfahren. Alyn Beßmann, Peter Pirker und Lisa Rettl beschreiben wie ehemalige Häftlinge sowohl ab Mai 1945 im Erkennungsdienst der Kriminalpolizei sowohl NS-Täter ausfindig machten und Beweismaterial sammelten, als auch Zeug*innen auf die Prozesse vorbereiteten und dort selber aussagten. Beispielhaft gehen die Autor*innen insbesondere auf das Komitee der ehemaligen politischen Häftlinge in Hamburg ein.
Ausschließlich die Position von Frauen als Zeuginnen in Konzentrationslager-Prozessen untersucht Susan Hogervorst. Dabei stellt sie heraus, dass diesen im Ravensbrück-Verfahren 1946 kaum Raum für eine Darstellung ihres Leidens eingeräumt wurde, während sie durch eigene Zusammenschlüsse und erlangte Öffentlichkeit in späteren Prozessen deutlich selbstbewusster auftraten und die Strafverfolgung vorantrieben.
Zu guter Letzt befassen sich drei Beiträge mit der Rollen von britischen und deutschen Verteidigern in verschiedenen Prozessen. Die britischen Pflichtverteidiger appellierten an die Gerichte jegliche moralische Aspekte auszublenden und ausschließlich auf Grundlage der vorgelegten Beweise zu urteilen. Reimer Möller stellt einige deutsche Verteidiger u.a. in den britischen Hauptprozessen zu den KZ Neuengamme und Ravensbrück vor. Von den zwölf vorgestellten Anwälten war der Großteil selbst NS-belastet, zum Teil hatten sie sich gegenseitig entlastet, um ihren Beruf weiter ausüben zu können. Einige von ihnen griffen die Legitimität und das Vorgehen der Gerichte an, dennoch wurde ihnen von Richterseite aus, eine gute Zusammenarbeit und saubere Arbeit trotz ihrer eigenen Situation attestiert. Drei der Anwälte arbeiteten später für die „Zentrale Rechtsschutzstelle“, die Reimer Möller in einem weiteren Beitrag behandelt. Schon 1949 wurde die Einrichtung als Teil des Bundesjustizministerium im Bundestag beschlossen, mit dem Ziel im Ausland verurteilten oder zur Fahndung ausgeschriebenen NS-Verbrechern Rechtsbeistand zu leisten. Durch Medienkampagnen und durch ihre Tätigkeit durch Finanzierung ihrer Rechtskosten per Ministeriumshaushalt sei ihr konstanter Einfluss Gerichtsverfahren und die Förderung einer „Schlussstrich-Politik“, die auch die Entschädigung deutscher Kriegsgefangener umfasste, nicht zu unterschätzen.
Mit diesem Sammelband vereint die KZ-Gedenkstätte Neuengamme eine Vielzahl von Aspekten und Fallbeispielen. Die Rechtsgrundlagen auf denen Prozesse geführt wurden, nehmen dabei eine wichtige Rolle ein, ebenso die Herausforderungen, vor denen die Justiz angesichts neuer Gesetze und gesellschaftlichen Drucks stand. Weiter gehen die Autor*innen in ihren Beiträgen auf Widersprüchlichkeiten und Diskussionen ein, die innerhalb und zwischen den Besatzungsmächten bestanden und geführt wurden. Auch die Rolle der jungen Bundesrepublik findet Berücksichtigung und Prozesse, die nicht auf deutschem Boden stattfanden, erfahren eine neue, bisher kaum gegebene Aufmerksamkeit. Die Beiträge zeichnen sich dazu durch eine gute Lesbarkeit und Quellendichte aus und sind somit ein äußerst wertvoller Beitrag für die Betrachtung der alliierten NS-Prozesse.