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Nürnberg steht – als „Stadt der Reichsparteitage“ und als Ort, in dem Julius Streicher sein berüchtigtes antisemitisches Hetzblatt „Der Stürmer“ herausgab – nicht nur symbolisch für die Terrorherrschaft und den Rassenwahn der Nationalsozialisten, sondern – da dort von 1945 bis 1949 eine Serie von Gerichtsverfahren gegen NS-Täter stattfand – auch für die Bemühungen der Siegermächte, die Menschheitsverbrechen des NS-Regimes strafrechtlich zu ahnden.
Das von den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich gemeinsam eingerichtete Internationale Militärtribunal (IMT) wurde am 18. Oktober 1945 in Berlin eröffnet und anschließend nach Nürnberg verlegt. Ab dem 20. November 1945 mussten sich die Hauptkriegsverbrecher – 22 führende Politiker, Beamte, Funktionäre der NSDAP und Generale – im dortigen Justizpalast vor Gericht verantworten (Reichsarbeitsführer Robert Ley hatte sich der Anklage durch Selbstmord entzogen, der Großindustrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach galt wegen Krankheit als verhandlungsunfähig). Anklagepunkte waren erstens Verbrechen gegen den Frieden, also die Planung, Vorbereitung und Führung von Angriffskriegen unter Verletzung internationaler Verträge; zweitens Kriegsverbrechen, gemeint war damit die Verletzung der Kriegsgesetze und -gebräuche, wozu die Ermordung, Misshandlung, Deportation zur Zwangsarbeit oder für andere Zwecke von Angehörigen der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete, die Ermordung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen und das Töten von Geiseln zählten; drittens Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung und Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen. Das IMT verkündete am 30. September und 1. Oktober 1946 die Urteile. Es verhängte die Todesstrafe gegen Martin Bormann (in Abwesenheit), Hans Frank, Wilhelm Frick, Hermann Göring, Alfred Jodl, Ernst Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Arthur Seyss-Inquart und Julius Streicher. Göring beging vor Vollstreckung des Urteils Selbstmord, die übrigen wurden am 16. Oktober hingerichtet. Zu Haftstrafen von zehn Jahren bis lebenslänglich verurteilte das IMT Karl Dönitz, Walther Funk, Rudolf Hess, Konstantin Freiherr von Neurath, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Albert Speer. Freigesprochen wurden Hans Fritzsche, Franz von Papen und Hjalmar Schacht (Steinbach 2008; Weinke 2006, S. 17-44, 53-56).
Die Rechtsgrundlage des IMT war lange Zeit heftig umstritten und in Frage gestellt. Kritik entzündete sich aufgrund des bestehenden Rückwirkungsverbots („nulla poena sine lege“) an den Anklagepunkten. Das Gericht berief sich daher bei der Strafverfolgung der „Verbrechen gegen den Frieden“ auf frühere völkerrechtliche Vereinbarungen, u.a. auf die Haager Landkriegsordnung, und bei den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf die Strafbarkeit bereits zuvor anerkannter Kriegsverbrechen (Weinke 2006, S. 57; Pendas 2010).
Der Prozess machte das ganze Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes deutlich. Der Genozid an den europäischen Juden*Jüdinnen war zwar kein eigener Anklagepunkt, wurde aber durch Beweisdokumente und Filmmaterial ausführlich dokumentiert (Weinke 2006, S. 44-53). Das Internationale Militärtribunal war darauf angelegt, in Deutschland und in der internationalen Öffentlichkeit eine aufklärende und abschreckende Wirkung zu erzielen. Um große Resonanz zu erreichen, wurde ausführlich in der Presse in den westlichen Besatzungszonen hierüber berichtet (Krösche 2011). Tatsächlich erfuhr das IMT in Deutschland zunächst noch relativ viel Zustimmung, da viele Deutsche in den Angeklagten die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen des NS-Regimes sahen. Einer Umfrage des Office of Military Government for Germany, US (OMGUS) nach Abschluss des Prozesses zufolge bezeichneten 55 Prozent der Deutschen die Urteile als gerecht, 21 Prozent als zu mild und lediglich neun Prozent als zu hart (Herf 1998, S. 245).
Im Anschluss an den Hauptkriegsverbrecherprozess fanden von 1946 bis 1949 in Nürnberg zwölf „Nachfolgeprozesse“ vor amerikanischen Militärgerichten statt. Verhandelt wurde gegen Ärzt*innen (Fall 1), Juristen (Fall 3), SS-und Polizeiangehörige (Fälle 4, 8 und 9), Militärangehörige (Fälle 7 und 12), Industrielle und Manager (Fälle 5, 6 und 10) sowie Minister und Regierungsfunktionäre (Fälle 2 und 11). Angeklagt wurden insgesamt 185 Personen, in 177 Fällen wurden Urteile gesprochen. Verhängt wurden 25 Todesurteile (von denen 12 vollstreckt wurden), 20 lebenslängliche und 97 befristete Freiheitsstrafen. 35 Angeklagte wurden freigesprochen (Priemel; Stiller 2013, zu den Zahlen ebd., S. 760).
Die Akzeptanz der Nachfolgeprozesse war deutlich geringer als die des IMT, sie wurden als „Siegerjustiz“ und die Urteile als Kollektivbestrafung betrachtet: Die Stimmung in der westdeutschen Bevölkerung hatte sich grundlegend geändert, da sich nun auch Angehörige der traditionellen Funktionseliten vor Gericht verantworten mussten und deren Komplizenschaft mit dem NS-Regime offen zu Tage trat (Reichel 2007, S. 69; Herf 1998, S. 245). Nach Abschluss der Nachfolgeprozesse ergab eine OMGUS-Erhebung 1950, dass 30 Prozent der Befragten diese als unfair und 40 Prozent die Urteile für zu streng hielten (Wilke u.a. 1995, S. 129).
Besonders umstritten war der Wilhelmstraßen-Prozess (Fall 11), dessen Bedeutung in der heraus gehobenen politischen und gesellschaftlichen Stellung der 21 Angeklagten, unter ihnen der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker, lag. Im Fokus der Kritik stand der leitende Ankläger Robert M. W. Kempner, gegen den sich die Wut über die Beschuldigungen durch die Alliierten richtete. Kempner, ein aus jüdischem Elternhaus stammender und 1935 aus Deutschland emigrierter Jurist, war nach Kriegsende als amerikanischer Staatsbürger nach Deutschland zurückgekehrt und hatte 1945/46 bereits in der Anklagebehörde im IMT mitgearbeitet. Die Kampagne gegen Kempner eröffnete Anfang 1948 kurz nach Prozessbeginn Richard Tüngel in der „Zeit“. Kempner wurde als einer der „Morgenthau-Boys“ diffamiert, die die „deutsche Tragödie“ aus dem sicheren Ausland beobachtet hätten und nun sogar gegen ehemalige Kollegen in der Ministerialbürokratie ermittelten (Pöppmann 2003, S. 185f.). Die Kritik riss aber auch nach Abschluss der Verfahrensserie nicht ab: Noch 1951 vermutete der Referent in der Personalabteilung des Auswärtigen Amtes Curt Heinburg in einem internen Papier Kempner „an der Spitze einer ‚israelischen Abwehrorganisation‘“ und bediente damit Verschwörungsmythen. Die offenbar gewordenen und vielfach belegten nationalsozialistischen Verbrechen führten zu keiner Einsicht und keinem Schuldeingeständnis, sondern vielmehr zu heftigen Abwehrreaktionen (Pöppmann 2003, S. 188).
Der Schock der Kriegsniederlage und der alliierten Besetzung war offenbar allmählich gewichen. Nachdem eine OMGUS-Erhebung im Dezember 1946 18 Prozent der Bevölkerung in der US-Zone als „harte“ Antisemit*innen und weitere 21 Prozent als Antisemit*innen eingestuft hatte (Herf 1998, S. 244), entstanden nun neue Ressentiments gegen Juden*Jüdinnen u.a. aufgrund von Restitutionsansprüchen und wegen der teilweise exponierten Rolle, die Juden nicht nur als Zeug*innen sondern auch als Ankläger in den Nürnberger Verfahren spielten. Entsprechende Reaktionen lassen sich sowohl für Angeklagte wie für die Öffentlichkeit belegen. So erklärte etwa der im Prozess gegen Friedrich Flick und fünf seiner engsten Mitarbeiter (Fall 5) im Dezember 1947 freigesprochene Odilo Burkart gegenüber Flicks Söhnen, er sei während seines Prozesses – in dem die Angeklagten sich auch wegen des Einsatzes von Zwangsarbeiter*innen und der „Arisierung“ von Unternehmen hatten verantworten müssen – nicht zum Freund der Juden geworden, er hielte diese vielmehr für „unsere größten Feinde“ (Zit. nach Frei u.a. 2009, S. 482).
Angesichts der veränderten weltpolitischen Lage beurteilten aber nicht nur Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit und Politik, sondern sogar an den Nürnberger Prozessen beteiligte Juristen diese zunehmend kritisch, dies mit einem zuweilen deutlich antisemitischen Subtext. So hatte der Vorsitzende Richter im so genannten Geiselmord-Prozess gegen zehn an der Südostfront eingesetzte Wehrmachtgenerale (Fall 7), Charles F. Wennerstrum, nach der Verkündung der Urteile am 19. Februar 1948 einem Korrespondenten der „Chicago Tribune“ ein Interview gegeben, in dem er erklärte, dass er nicht nach Nürnberg gekommen wäre, wenn er vor sieben Monaten gewusst hätte, was ihn erwartete. Nicht nur bezeichnete er die Verfahren als unfair, vielmehr nannte er auch das Konzept der Anklage „rachsüchtig“ und von „persönlichen Ambitionen“ geprägt. Die Anklagebehörde habe, so Wennerstrum, etliche Mitarbeiter, die erst in den vergangenen Jahren Amerikaner geworden und die daher weiter in den „Vorurteilen und den Haßgefühlen Europas verhaftet“ seien. Wennerstrums Äußerungen erhöhten den zu dieser Zeit bereits beträchtlichen deutschen Druck, die Urteile abzumildern (Frei 1997, S. 140, Zitate nach ebd.).
Auch der Prozess gegen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und führende Manager des Krupp-Konzerns rief Proteste amerikanischer Politiker hervor (Fall 10). Mehrere Kongress-Abgeordnete meldeten sich zu Wort. Der Republikaner William Langer vermutete einen „kommunistisch-inspirierten Schauprozess“ und der Demokrat John Rankin sprach von den „Verfolgungsexzessen einer rassischen Minderheit“, die „zweieinhalb Jahre nach Kriegsende nicht nur deutsche Soldaten aufgeknüpft, sondern auch deutsche Geschäftsmänner im Namen der Vereinigten Staaten abgeurteilt“ hätten (Weinke 2006, S. 89).
Der öffentliche und politische Druck in Deutschland (aber auch in den USA) führte ab 1950, als im Kalten Krieg die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte im Interesse der USA lag, zur raschen Begnadigung der Mehrzahl der in Nürnberg Verurteilten (Giordano 1987, S. 117).
Dieser Beitrag basiert auf folgenden Texten des Verfassers:
Osterloh, Jörg: Nürnberger Prozesse, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Im Auftrag des Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin hrsg. v. Wolfgang Benz. In Zusammenarb. mit Werner Bergmann u.a. Red. Brigitte Mihok. Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin 2011, S. 258–260.
Osterloh, Jörg; Vollnhals, Clemens: Einleitung, in: Osterloh, Jörg; Vollnhals, Clemens (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 11–31.
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