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Berlin spielte für den Kolonialismus eine zentrale Rolle. Das ging weit über seine Stellung als Hauptstadt des gut dreißig Jahre währenden deutschen Kolonialreiches in Afrika, Ozeanien und China hinaus. Im Reichkanzler-Palais in der Wilhelmsstraße tagte 1884/1885 die Kongo-Konferenz, auch bekannt als Berliner Afrika-Konferenz. Auf ihr handelten die „Mächte“ unter Ausschluss jeglicher afrikanischer Vertretung die Modalitäten aus, unter denen in den folgenden Jahren der Kontinent fast vollständig aufgeteilt wurde. Dieser Raubzug wurde mit dem Anspruch bemäntelt, man wolle dem Sklavenhandel vor allem im Kongo-Becken ein Ende setzen.
Deutschlands afrikanisches Kolonialreich umfasste die heute unabhängigen Staaten Namibia (Deutsch-Südwestafrika), das kontinentale Tanzania, Rwanda und Burundi (alle Deutsch-Ostafrika) sowie den Großteil des heutigen Kamerun und Togo. In Berlin fanden diese Eroberungen auch sehr bald sichtbaren Niederschlag: Straßen wurden nach vorgeblichen Kolonialhelden benannt, die oft blutige Unterwerfungsfeldzüge geführt hatten; das Afrikanische Viertel im Norden des Wedding plante man als sinnfällige Darstellung des Kolonialreichs mit nach Personen, vor allem aber nach Orten und Flüssen benannten Straßen. Planungen für ein Kolonialdenkmal wurden freilich nicht verwirklicht.
Die relativ kurze Zeit, die das deutsche Kolonialreich währte, hatte einschneidende Folgen. Für die Kolonisierten bedeutete sie über viele Jahre rücksichtslose Gewaltausübung, um den immer wieder aufflammenden Widerstand zu brechen – oder wie im Fall der in Namibia ab 1911 offiziell so bezeichneten „Buschmannjagden“ in Namibia einfach diejenigen Menschen zu eliminieren, die den Kolonisatoren als Arbeitskräfte nicht geeignet erschienen. Aus dem Gewaltgeschehen ragen der 1904-08 in Namibia verübte Völkermord an Ovaherero und Nama hervor. Bei weit höherer Bevölkerungszahl als in Namibia überstieg die Anzahl der Opfer des Maji-Maji-Krieges in Tanzania und danach der rücksichtslosen Kampagne des Schutztruppen-Kommandeurs Lettow-Vorbeck dieses Verbrechen noch bei weitem. Lettow-Vorbecks Truppe paradierte 1919 „ungeschlagen“ durchs Brandenburger Tor. Kurz danach wandte er sich gegen Aufständische in Deutschland, etwa im Hamburger „Sülze-Aufstand“. Es ließ sich schon damals erkennen, dass koloniale Formen der Unterwerfung in die Kolonialmetropole zurückschlugen.
Für Deutschland markiert die Kolonialherrschaft auf drei Erdteilen sinnfällig den Beginn der „Weltpolitik“ und des Kampfes für einen „Platz an der Sonne“ (Bernhard von Bülow), demnach jener Gewaltgeschichte, die in Faschismus und Holocaust mündete. Auch wenn er nur vergleichsweise kurz währte, war der deutsche Kolonialismus daher keineswegs eine „Episode“, als den ihn manche Historiker immer noch herunterspielen. Es handelt sich vielmehr für ein Beispiel jener verwobenen Geschichte. Auch wenn es um drastische Machtgefälle geht, lassen sich die Prozesse nicht auf den nationalen Rahmen reduzieren. Wir sind auf globale Zusammenhänge verwiesen, und insbesondere war das Geschehen in den Kolonialmetropolen wie Deutschland untrennbar mit kolonialen Verhältnissen verknüpft. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert lässt nicht außerhalb dieses Verflechtungszusammenhangs verstehen.
In der offiziellen deutschen Erinnerungspolitik und konkret in der Erinnerungslandschaft Berlins findet dieser Zusammenhang bis heute keine Entsprechung. Vor allem das Ensemble am Tiergarten in der Nähe des Brandenburger Tors verweist nachdrücklich und öffentlichkeitswirksam auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Tourist*innen kommen am Holocaust-Mahnmal nicht vorbei, die Erinnerungsstätten für die ermordeten Sinti und Roma sowie Schwule und Lesben sind eher versteckt, aber immerhin präsent, jene für die Opfer der Euthanasie und die Topographie des Terrors nicht weit entfernt. Der Anspruch, das Gedenken an „Auschwitz“ sei heute deutsche Staatsräson tritt hier in Stein und Beton auch repräsentativ in Erscheinung. Es darf nicht übersehen werden, dass diese Situation nicht als spontane Reaktion auf die unaussprechlichen Verbrechen und Schrecken zustande kam, sondern durch den Mut und die Beharrlichkeit derer, die sich mit dem jahrzehntelangen Beschweigen nicht abfinden konnten. Wenn Deutschland gelegentlich als „Erinnerungsweltmeister“ bezeichnet wird, so muss immer wieder gesagt werden, dass vermutlich die Mehrheit erst mühsam überzeugt werden musste. Und diese Überzeugungen bleiben immer umkämpft, müssen stets aufs Neue aktualisiert werden.
Besucher*innen aus Namibia, die ich öfter in die Mitte Berlins begleite, sind in der Regel beeindruckt und stellen dann wohl die naheliegende Frage: „And what about us?“ Damit wird unmittelbar deutlich, dass es in der in mancher Hinsicht als einzigartig zu bezeichnenden Erinnerungslandschaft der deutschen Hauptstadt eine Lücke gibt. Diese Lücke ist klaffend und unübersehbar, wenn man einmal dafür sensibilisiert ist. Freilich trifft dies für den Großteil des Publikums nicht zu.
Der deutsche Kolonialismus ist im öffentlichen Bewusstsein so wenig präsent, dass noch Anfang 2020 ein ehemaliger Außenminister sagen konnte, Deutschland sei kolonial wenig belastet und könne daher eine Vermittlungsrolle etwa in Libyen spielen. Die Episode belegt einmal mehr, dass die Periode der deutschen Kolonialherrschaft nach Phasen der aggressiven Kolonialpropaganda und auch noch des Kolonialrevisionismus in den 1920er und 1930er Jahren nach 1945 einer Amnesie verfallen ist.
Koloniale Amnesie bedeutet nicht, dass die koloniale Vergangenheit völlig aus dem kognitiven Bereich ausgeschieden wäre. Sie wird seit einigen Jahren sogar verstärkt erforscht und dementsprechend gibt es in einer Fachöffentlichkeit auch Wissen darüber. Dieses Wissen wird freilich im öffentlichen Diskurs allenfalls episodenhaft thematisiert.
Seit 2004, als der hundertste Jahrestag des Völkermords in Namibia und kurz darauf des Maji- Maji-Krieges in Ostafrika erstaunlich viel Aufmerksamkeit auch in Deutschland erregten, hat es immer wieder solche Episoden gegeben. In erster Linie standen sie im Zusammenhang mit der Repatriierung deportierter menschlicher Überreste an Namibia, vor allem von der Charité. Dies geschah 2011, 2014 und 2018, jeweils unter großer Medienöffentlichkeit. Die Repatriierung 2011 wurde von einer großen namibischen Delegation begleitet, der zahlreiche Nachfahren von Opfern des Völkermordes angehörten. Es entstanden Beziehungen mit Angehörigen der deutschen Zivilgesellschaft und besonders auch der Afro-Deutschen Gemeinschaft. In den folgenden Jahren entwickelte sich aus wiederholten Besuchen ein Aktionszusammenhang. Als Ovaherero und Nama in ihrer traditionellen Kleidung und mit der Forderung nach eigenständiger Vertretung bei den seit 2015 laufenden Regierungsverhandlungen zwischen Namibia und Deutschland auf einer Demonstration durch die Straße Unter den Linden zogen, vorbei am Reiterstandbild des Alten Fritz, bedeutete dies eine neuartige, unmittelbare Form postkolonialer Präsenz im Herzen von Berlin.
Ein solches singuläres Ereignis hat freilich keine dauerhafte Wirkung auf die Berliner Erinnerungslandschaft. Sucht man dort nach Verweisen auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands in Afrika, so wird man genau an zwei Stellen fündig. Diese Stellen befinden sich am Rand öffentlicher Aufmerksamkeit. Der Fund gelingt nur aufgrund genauer Information und Sensibilisierung. Viele Passant*innen werden auf der Westseite der Wilhelmsstraße die schmale Stele übersehen, die dort an die Berliner Afrika-Konferenz erinnert. Sie steht vor dem authentischen Ort, wo einmal das Reichskanzler-Palais stand. Auch gibt sie Auskunft über das Geschehene. Allerdings ist sie völlig unauffällig, und nur diejenigen werden sie finden, die ausdrücklich danach suchen. Das auf private Initiative 2005 aufgestellte Denkmal kann den Ort also zwar markieren, es stellt aber keine Intervention in den Straßenraum dar, die aktiv zum Innehalten und Nachdenken auffordern würde. Ohne einen speziellen Hinweis laufen die Leute daran vorbei. Noch klarer ist dieser Sachverhalt beim Afrika-Stein auf dem Neuen Garnisonsfriedhof. Dieser durch seine teils bombastisch kriegerisch gestalteten Grabstätten an sich bemerkenswerte Ort ist heute den meisten eher durch die am Rand, am Columbiadamm gelegene Moschee geläufig. Den Afrika-Stein finden nur Kundige an der entfernten Friedhofsmauer. Es handelt sich im Kern um einen Gedenkstein für im Namibischen Krieg 1903-08 gefallene deutsche Soldaten, zusätzlich mit einem Aufsatz zum Gedenken an das Afrika-Korps im Zweiten Weltkrieg. Nach längeren Auseinandersetzungen mit dem Bezirksamt Neukölln wurde 2009 vor diesen Stein eine Platte gelegt, die den Umriss Namibias zeigt und an den Krieg von 1903-08 erinnert, allerdings auf amtliche Weisung ohne den Völkermord zu benennen.
Beide Orte werden für öffentliche Ereignisse genutzt: Alljährlich Ende Februar findet seit 2006 hier der Gedenkmarsch zur Erinnerung an die afrikanischen Opfer von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus statt. Die Auseinandersetzung um die Änderung des diskriminierenden Namens „Mohrenstraße“, die hier auf die Wilhelmsstraße trifft, ist eng mit diesen Aktivitäten verbunden. Am Afrika-Stein finden vor allem bei Besuchen aus Namibia zeremoniell ausgestaltete öffentliche Ereignisse statt.
Die zentrale Erinnerungslandschaft Berlins wird dadurch so wenig verändert wie durch den seit längerem institutionalisierten Ausbau des Afrikanischen Viertels zum postkolonialen Erinnerungsort. Ein angemessenes Denkmal wurde 2016 im Koalitionsvertrag für den Berliner Senat erstmals vorgesehen, allerdings vorbehaltlich einer Koordinierung mit der Bundesebene. Eine Realisierung steht demnach aus. Die Dringlichkeit eines solchen Vorhabens besteht ungeachtet der institutionellen Hürden, solange der staatlichen Prägung der Erinnerungslandschaft zumal an zentralen Stellen der Hauptstadt Bedeutung zugemessen wird. Angesichts zurückliegender Debatten, etwa über den Gedenkort an der Neuen Wache sowie aktuell über das aus postkolonialer Sicht schwer belastete Humboldt-Forum im nachgebauten Berliner Schloss verspricht ein Denkmalsprojekt auch eine öffentliche Auseinandersetzung, die weiter dazu beitragen kann, die noch immer vorherrschende koloniale Amnesie zumindest zu relativieren.