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Die Geschichte des Gefängnisses im ehemaligen Polizeipräsidium der Volkspolizei in der Nähe des Alexanderplatzes ist eine ungeschriebene. Bisher besteht keine explizite Publikation oder Forschungsarbeit zur Geschichte des Ortes. Eine Ausnahme stellen der Denkmalschutzbericht von 2017 und der Bericht der Robert-Havemann-Gesellschaft dar, die vor allem den Bestand im Landesarchiv Berlin sichteten. Dementsprechend sind die Leerstellen oder „weißen Flecken“ zahlreicher als die gesicherten Kenntnisse. Eine zeitlich differenzierte Betrachtung von Haftbedingungen und -alltag ist zum derzeitigen Zeitpunkt daher kaum möglich. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an allgemeinen Beschreibungen bzw. auf die 1970er und 1980er Jahre. Denn auch die bisherigen Zeitzeug*innenaussagen beziehen sich hauptsächlichen auf diesen Zeitrahmen.
Die Karstadt AG ersteht bis 1928 das Gelände zwischen Neue Königsstraße (Hans-Beimler-Straße, dann: Otto-Braun Straße und jetzt: Bernhard-Weiß-Straße), Keibelstraße und Wadzeckstraße, um dort den neuen Verwaltungssitz der Firma zu errichten. Nach der Bauzeit zwischen Frühjahr 1930 und Dezember 1931 zieht im Januar 1932 der Hauptverwaltungssitz und die Abteilung Zentraler Einkauf in den Gebäudekomplex ein. Auf Grund der wirtschaftlichen Schieflage des Konzerns zu Beginn der 30er Jahre und der Erkenntnis, dass der Bau zu überdimensioniert ausgefallen ist, verkauft die Karstadt AG 1934 das komplette Haus an das Reichsfinanzministerium. Zwei Jahre später ist der komplette Auszug abgeschlossen.
Ab 1935 nutzt nach Umbaumaßnahmen das Statistische Reichsamt die Räumlichkeiten und stellte insbesondere im Zuge der Volkszählungen von 1933 und 1939 das Datenmaterial für die Enteignung und Verfolgung der deutschen Juden und Jüdinnen zur Verfügung. Während des 2. Weltkrieges erhielt das Gebäude im Mai 1944 mehrere Bombentreffer, wodurch ein Teil komplett zerstört war. Ab 1947 beginnt der Wiederaufbau des Gebäudekomplexes, sodass am 16. Oktober 1948 das Präsidium der Volkspolizei Berlin einzog. Vorausgegangen war die Spaltung der Berliner Polizei durch den Streit um den Polizeipräsidenten Markgraf in West und Ost. Auf dem Platz eines zerstörten Flügels entsteht dann zwischen 1949 und Oktober 1951 der Gefängnisbau. Zwischen den Jahren 1951 und 1988 wurde die Haftanstalt immer wieder verändert, renoviert und modernisiert.
In Ostberlin gab es zwei Untersuchungsgefängnisse des Ministeriums des Inneren: Die Untersuchungshaftanstalt I (UHA I) in Rummelsburg und die Untersuchungshaftanstalt II (UHA II) in der Keibelstraße.
Die UHA II bestand aus den Stationen 1-7, die sich jeweils auf sieben Stockwerke verteilte, und der Station 0, die sich im Erdgeschoss befand. Der Zugang erfolgte meistens von der Keibelstraße über die Station 0, die aus den Wartezellen, Baderäume und der Effektenkammer bestand. Zusätzlich waren im Erdgeschoss die Gefängnisküche, Lagerräume sowie drei personengroße Beruhigungszellen. Auf dem Dach befand sich eine Glaskonstruktion, durch die Tageslicht in die Haftraumhalle gelangte. Gleichzeitig absolvierten die Häftlinge dort ihren Freigang, in dem sie in der Regel für eine halbe Stunde um das Glasdach gingen.
In der UHA II waren Männer und Frauen untergebracht. Für die Frauen waren in den meisten Nutzungsjahren die Stockwerke 6 und 7 vorgesehen. Die offizielle Kapazität betrug 1977 260 Häftlinge bei einer tatsächlichen Belegung von ca. 298 Personen. Ein Jahr später beläuft sich die offizielle Anzahl auf 209 Inhaftierte, was vermutlich auf die Umfunktionierung von Mehrpersonenverwahrräumen in Arbeits- und Diensträume zurückzuführen ist. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Untersuchungshaftanstalt permanent überbelegt war, so dass in den Verwahrräumen statt der vorgesehenen Einzelperson zwei Inhaftierte untergebracht waren. Als Ausstattung gab es in den Verwahrräumen ein Wasserklosett, ein Waschbecken, ein Doppelstockbett, einen Klapptisch mit ein bis zwei Hockern und ab den 1970ern einen Hängeschrank.
In der Untersuchungshaftanstalt saßen Menschen wegen sämtlicher Delikte des Strafgesetzbuches der DDR ein. Die meisten Personen kamen wegen sogenannter klassischer Kriminalität wie Diebstahl, Betrug, Raub oder Körperverletzung in die Untersuchungshaft. Es erfolgten auch Inhaftierungen wegen „ungesetzlichen Grenzübertritt“ (§213), „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ (§249), „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ (§214) und bis 1985 wegen „Totalverweigerung“. Die Anzahl und Häufigkeit der vorgeworfenen Delikte variierten im Laufe der Zeit und sie war häufig abhängig von der Innenpolitik der SED. Zusätzlich kam es zu größeren Zuführungen an bestimmten Ereignissen, wie am 7.10.1969. Anlässlich des Gerüchtes eines Konzertes der Rolling Stones auf dem Dach des Springergebäudes versammelten sich hunderte von Jugendlichen, die die Volkspolizei zum Teil verhaftete und unter anderem in die Keibelstraße brachten. Im Falle einer geringen Reststrafe saßen einige Menschen ebenfalls ihre Strafhaft ab und verblieben in der UHA II. Für die meisten Inhaftierten war die UHA II allerdings ein Durchgangsort, in dem sie zwischen ein paar Stunden bis mehrere Monate bis zur Verurteilung oder Freilassung eingesperrt waren.
Der Tag begann für die Inhaftierten um 6 Uhr mit dem Wecken und endete um 20 Uhr mit der Nachtruhe. Da sich die Lichtschalter außerhalb der Verwahrräume befanden, saßen die Häftlinge ab dem Zeitpunkt im Dunkeln. Das heißt ein Tag mit Licht belief sich auf 14 Stunden, von denen sie 13,5 Stunden in den verschlossen Verwahrräumen und eine halbe Stunde Freigang auf dem Dach verbrachten. Langeweile und Eintönigkeit sowie militärische Disziplin prägten den Alltag, der vor allem in der Anfangszeit von Verhören unterbrochen war. Tagsüber durften die Inhaftierten das Bett nicht benutzen, so dass nur die zwei Hocker und der restliche Platz in dem ca. 6 m² großen Verwahrraum zur Verfügung standen. Öffnete das Wachpersonal die Zellentür, mussten sich die Häftlinge in der Regel mit dem Rücken zum Fenster stellen und Meldung machen. Auf die korrekte Dienstrangbezeichnung legte das Wachpersonal großen Wert. Gleiches galt für Ordnung und Sauberkeit im Verwahrraum. Das Bett sowie die Kleidung im Hängeschrank mussten ordentlich gefaltet sein und der Verwahrraum sauber gehalten werden.
Ein längerfristiges Entrinnen aus der Monotonie des Verwahrraumes bot für Untersuchungshäftlinge einer der wenigen Arbeitsplätze. Während Strafhäftlinge verpflichtet waren zu arbeiten, konnten Untersuchungshäftlinge nur bei zur Verfügung stehenden Beschäftigungen tätig sein. Im Jahr 1977 waren dies 31 % der Untersuchungshäftlinge, die in den Arbeitskommandos Küche für die Untersuchungshaftanstalt oder für das Präsidium der Volkspolizei, Leuchtenbau (VEB Narva), Münze (wahrscheinlich für die Münzprägeanstalt Ost-Berlin) sowie im Außenkommando Reinigung im Ministerium des Inneren sowie Volkspolizeipräsidium beschäftigt waren. Der zur freien Verfügung stehende „Lohn“ betrug zwischen 10-18 % des üblichen Nettogehalts und konnte im HO-Laden des 5. Stocks für Zigaretten, Seifen, Süßigkeiten oder andere Lebensmittel ausgegeben werden.
Für diejenigen, die den Tag im Verwahrraum verbrachten, ergaben sich unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten. So existierte eine Bibliothek in der Untersuchungshaftanstalt. Die Bücher konnten die Häftlinge aber nicht frei wählen, sondern ein sogenannter Kalfaktor (Hausarbeiter und Strafgefangener) verteilte willkürlich die Lektüre, bei der es sich in der Mehrzahl um sozialistische Literatur handelte. Zeitzeug*innen erwähnen in dem Zusammenhang „Das Kapital“ von Karl Marx. Zudem gab es jeden Tag die Zeitung „Neues Deutschland“. Allerdings artikulieren ehemals Inhaftierte hier unterschiedliche Erinnerung. Es könnte sein, dass hier eine individuelle Verteilungspraxis bestand. Ab den 1980er-Jahren konnten dann eine geringe Anzahl der Häftlinge am Sonntag einen Fernsehraum nutzen.
Eine andere Abwechslung bot die unerlaubte Kommunikation der Häftlinge untereinander. Dafür nutzten sie einmal die Toilette mit dem durchgängigen Abflussrohr durch sämtliche Stockwerke. So pumpten die Inhaftierten das Wasser aus dem Knick der Toilette mittels der Klobürste oder eines Lappens. Wenn eine andere Person an dem Strang ebenfalls leerpumpte, konnte ein Gespräch erfolgen. Zum anderen pendelten die Inhaftierten. Hierbei wurde an einer Leine Botschaften, Zigaretten, etc. zwischen den Fenstern hin und her geschwungen. Etwas zeitintensiver war die Kommunikation durch Klopfzeichen. Denn aufsteigend von einem Klopfen für ein A erhöhte sich die Anzahl der Klopfzeichen pro Buchstaben. Erwischte das Wachpersonal die Häftlinge, drohten Disziplinarstrafen bis zum Arrest.
Zu Gewalttätigkeiten des Wachpersonal liegen bisher noch keine belastbaren Belege vor. Einige Zeitzeug*innen erinnern sich an Schreie in der Nacht, die durch die Haftraumhalle hallten. Sie schlussfolgerten, dass es sich dabei um Gewalttaten handelte. Andere berichten von alltäglichen Schikanen oder verdeckten Schlägen, die abhängig von der Persönlichkeit des Wachpersonals waren. Die Gefangenen konnten sich offiziell bei der Leitung der Untersuchungshaftanstalt beschweren, verfolgt wurden Übergriffe in den meisten Fällen nicht bzw. sie wurden nur „intern“ geregelt.
Einmal im Monat war es den Gefangenen erlaubt einen Besuchskontakt zu empfangen, doch es kam immer wieder vor, dass dieses Recht vom Wachpersonal entzogen wurde. Genauso erfolgte dies beim monatlichen Recht Briefe zu schreiben. Manche der Gefangenen erhielten Geld und Pakete von außen, z.B. bei Geburtstagen. Das Essen wurde feinsäuberlich durchsucht. Ein Recht auf Verteidigung im Falle eines Prozesses war nicht immer gegeben, in vielen Fällen gab es nur einen kurzen Kontakt mit einem Anwalt oder einer Anwältin oder sie haben sie erst am Prozesstag zum ersten Mal gesehen. Anwält*innen hatten in der DDR nicht das Recht auf Akteneinsicht. Urteile standen immer wieder bereits vor Prozessbeginn fest bzw. sie wurden in einigen Fällen von der SED vorgegeben.
Die verbliebenen Inhaftierten wurden am 21. - 22. Juni 1990 in die Haftanstalten in Rummelsburg, Lichtenberg und Pankow verlegt. Im Oktober folgte der Transport aus diesen Haftanstalten in die West-Berliner Justizvollzugsanstalten. Bis zum 1. Juli 1992 stand der Gefängnisbau leer, bis die Berliner Polizei den 6. Stock getrennt durch zwei Zwischendecken als Polizeigewahrsam und Abschiebegefängnis nutzte. Vier Jahre später endete die Zwischennutzung. Danach folgte ein Leerstand, bis im Februar 2019 der Lernort Keibelstraße eröffnet wurde. In der Zwischenzeit konnten allerdings Filmproduktionen die Räumlichkeiten mieten, die diverse Veränderungen vornahmen. Die größten Eingriffe nahm die Produktion zum Film „Half Past Dead“ vor, der im Jahr 2002 erschien. So wurde die originale Wandfarbe aus hellgrün und hellgelb in einem dunklen Grauton übermalt, Treppengitter abmontiert, etc. Der letzte kommerzielle Filmdreh erfolgte kurz vor der Eröffnung für das Musikvideo „Deutschland“ der Band Rammstein.