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Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput VI
Über das Verhältnis von Theorie und Praxis gibt es in der Geschichte der Philosophie bis heute ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen. Diese reichen vom Ideal ‚reiner’ Theoriebildung bis zu dem Anspruch, Theorie müsse sich gerade in konkreten Zusammenhängen des praktischen Lebens bewähren. Im Lichte realer Konflikte betrachtet mag sich die Frage nach der Relevanz so mancher in weit verzweigten theoretischen Debatten diskutierter Probleme stellen. Doch droht umgekehrt im Dunkeln nur herumzutappen, wer versucht, solche Konflikte ohne jeden das eigene und gemeinsame Handeln orientierenden Leitfaden aufzulösen.
Eine solche Orientierung in einer Zeit der gesellschaftlichen Krise anzubieten, ist der Anspruch, mit dem der Jenaer Philosoph Bruno Bauch eine Bestimmung des Begriffs der Nation vornimmt. Die Nation lässt sich, so Bauch, „begreifen als natürliche Abstammungsgemeinschaft, die in der Verbundenheit durch gemeinsame Geschichte eine kultürliche Einheit sich stetig erarbeitet […]“ (Bauch 1916a: 25). Während er die zu schaffende kultürliche Einheit auf die gemeinsame Praxis der Realisierung spezifischer moralischer, epistemischer und ästhetischer Werte zurückführt, versteht er die vorgegebene natürliche Grundlage dieser Praxis als Gemeinschaft der Abstammung, des seelischen Empfindens und der Sprache. Diese natürliche Grundlage ermöglicht nach Bauch ein intuitives gemeinsames Verstehen und Erkennen. „Ohne dass ich selber auch nur ein Wort zu reden brauche, bieten mir im Auslande die Zeitungsausträger Deutsche Zeitungen in Deutscher Sprache an und höre ich sagen: ,Das ist ein Deutscher‘“. (Ebd.: 3)
Was hier zunächst noch als etwas antiquiert wirkende, aber insgesamt doch eher harmlose Anekdote und zugleich als ernsthafte philosophische Grundsatzreflexion erscheint, offenbart spätestens auf den zweiten Blick seine politische Brisanz. Der Artikel, der vollständig 1916 in den Kant-Studien erscheint, ist aus dem Zusammenhang der „philosophischen Ideen von 1914“ zu verstehen (Vgl. Lübbe 1963: 172-238). In diesen Ideen haben angesehene deutsche Philosophen wie Max Scheler, Paul Natorp, Rudolf Eucken oder eben Bruno Bauch versucht, dem deutschen Reich eine sittliche Mission zur Verwirklichung des Guten zuzuschreiben, den Einzelnen zur Aufopferung für die nationale Gemeinschaft aufzurufen und so eine philosophische Rechtfertigung der deutschen Kriegsführung vorzunehmen. Aber das ist nicht alles. Der Aufsatz ist zugleich auch Ausdruck eines Umschwungs des innenpolitischen Klimas in Deutschland. Angesichts der zunehmend schlechteren Versorgungslage und dem Ausbleiben eines erhofften schnellen Sieges kommt es zu einem Anwachsen antisemitischer Ressentiments: Nationalistische Verbände agitieren gegen die Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus den besetzten Gebieten des Ostens; die sogenannte „Judenzählung“, d.h. die Erhebung über die Beteiligung von Juden am Militärdienst unterstellt implizit den Vorwurf der „Drückebergerei“ und einer gemeinschaftsschädigenden Haltung, und auch in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen Artikel, die Juden einen zersetzenden Rationalismus und die Auflösung aller natürlichen Bindungen zuschreiben (Vgl. Böhm 1915: 404-420).
Der Artikel Bruno Bauchs lässt sich in seiner philosophischen und politischen Tragweite nur im Kontext dieser Auseinandersetzungen verstehen. Er unterstellt aus der „natürlichen Abstammungs-gemeinschaft“ hervorgehende Grenzen des Verstehens und der Kultur. „Allein, wo wir nicht sagen können: ,Das ist Blut von unserem Blute,‘ da findet einmal sicher doch auch unser Verständnis eine Grenze.“ (Bauch 1916a: 6) Indem er die „kulturelle Sonderbestimmung eines jeden Volkes“ (Bauch 1916b: 743) auf diese Weise an eine „Gemeinschaft des Blutes“ zurückbindet, vollzieht er zum einen eine entscheidende Radikalisierung der Ideen von 1914. Die durch die Aufopferung des Einzelnen zu schaffende nationale Gemeinschaft wird jetzt völkisch-exklusiv verstanden (Vgl. Schöning 2008: 200-219). Auf diese politische Dimension hatte insbesondere Hermann Cohen, jüdisches Mitglied der Kant-Gesellschaft und Begründer des „Marburger Neukantianismus“ hingewiesen. Er schreibt in einem Brief an seinen Freund Paul Natorp: „Muss es da nicht scheinen, als ob in den höchsten Gefahren der Politik die Deutschen doch immer an die Juden denken, ob sie nur ja nicht zu viel verdienen, oder sich drücken, oder […] in zu geringer Anzahl fallen.“. (Cohen 1986: 456) Zum anderen wird für Bauch dieses exklusive Gemeinschaftskonzept zu einem Beurteilungskriterium auf dem Gebiet der Philosophie zu bewerten. Die Philosophie stellt eine der Kulturleistungen dar, in der sich die besondere Werbestimmung einer Nation ausdrückt. „Wohin geraten wir“, so fragt vor diesem Hintergrund Ernst Cassirer in einer unveröffentlicht gebliebenen Reaktion auf Bruno Bauch, „wenn in dem Streit um die Gültigkeit eines Satzes nicht mehr sein reiner Inhalt massgebend ist, wenn eine Entscheidung nicht mehr von seinen logischen Voraussetzungen und Gründen, sondern der Persönlichkeit seines Urhebers hergenommen werden soll?“ (Cassirer 2008: 35)
Der Geschäftsführer der Kant-Gesellschaft und einstiger Förderer von Bruno Bauch, Hans Vaihinger, kritisierte die antisemitische Ausrichtung von Bauchs Aufsatz. Er war der Auffassung, dieser Text sei deshalb nicht nur für die Kant-Studien ungeeignet, sondern gehöre auch nicht in die „Philosophie im engeren Sinne“. So schreibt er in einem Brief an den Direktor der Kant-Gesellschaft, Bauch stelle den jüdischen Mitgliedern „doch schließlich den Stuhl vor die Türe der Wissenschaft, so, dass die Juden sich vom deutschen und wissenschaftlichen Leben und von der deutschen Kultur als ausgeschlossen betrachten müssen“. (Vaihinger 1916)
Bauch selbst hatte sich vom Vorwurf des Antisemitismus jedoch freigesprochen. Indem er einzelnen Nationen eine besondere Bestimmung für die Realisierung je eigener Kulturwerte zuweist, geht er davon aus, dass sich die unterschiedlichen „Völker“ gerade durch die Besinnung auf das Eigene in einer gemeinsamen Menschheitskultur wechselseitig ergänzen können. Auf dieser Grundlage könne er auch die Kulturleistungen anderer anerkennen. Aber auch diese ethnopluralistische Konzeption verlangt die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Zugehörigen und dem Unzugehörigen. Zudem differenziert Bauch sowohl Gemeinschaften als auch Individuen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Erfassung und Realisierung von Kulturwerten. Damit wird die beschriebene Vielfalt und wechselseitige Ergänzung zu einer gemeinsamen Menschheitskultur unter der Hand zu einer Hierarchie zwischen den einzelnen Nationen. Und indem Bauch die zu schaffende Kulturgemeinschaft nicht nur von gemeinsamer Abstammung, sondern auch von einem gemeinsamen Boden und einem gemeinsamen Staat abhängig macht und auf dieser Grundlage zwischen „Gast-“ und „Wirtsvölkern“ unterscheidet, schließt er implizit Jüdinnen und Juden aus dem Kreis der Kulturgemeinschaften aus.
Der Aufsatz Bauchs hatte seinerzeit für einiges Aufsehen gesorgt. Nach Protesten und Rücktrittsdrohungen innerhalb der Kant-Gesellschaft und verschiedenen gescheiterten Vermittlungsversuchen trat Bauch, der unnachgiebig auf seiner Position beharrte, von der Redaktion der Kant-Studien zurück. Dieser Rücktritt war jedoch kein Rückzug. Bauch veröffentlichte in der alldeutschen Zeitschrift „Der Panther“ eine Selbstrechtfertigung seines Vorgehens, in der er die Reaktionen der jüdischen Mitglieder der Kant-Gesellschaft als bevormundend angreift und sich als Kämpfer gegen Meinungsverbote stilisiert, der „eine Art jüdischer Oberzensurbehörde nicht anerkennen könne“. (Bauch 2008: 289) Zudem gründet er zusammen mit seinem Jenaer Kollegen, dem radikal-völkischen Denker Max Wundt als bewusstes Gegengewicht zur international ausgerichteten Kant-Gesellschaft die „Deutsche philosophische Gesellschaft“. Diese hatte sich die „Herausarbeitung einer deutschen idealistischen Weltanschauung“ zum Ziel gesetzt und sollte in den Folgejahren zu einem wichtigen Scharnier zwischen nationalkonservativ, völkisch und nationalsozialistisch orientierten Philosophen werden (Vgl. Tilitzki 2002: 488). Damit wurde der von Bauch provozierte Konflikt in der Kant-Gesellschaft ein wichtiger Auslöser für die Polarisierung und Spaltung auch der philosophischen Öffentlichkeit und einer dadurch begünstigten Radikalisierung der Diskurse während der Weimarer Republik.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass man sich auch Jahre später noch an die Intervention Bauchs erinnern sollte. So bezieht sich Erich Jaensch, Nachfolger Hermann Cohens in Marburg und überzeugter Nationalsozialist, nach den Pogromen vom 9. November 1938 positiv auf Bauch als Vorkämpfer gegen den jüdischen Einfluss in der Wissenschaft (Vgl. Sieg 2013: 219). Auch Bauch selbst konnte noch 1941 in „Erbanlage, Erziehung und Geschichte“ (Bauch: 1936/37) an seine Überlegungen aus dem 1. Weltkrieg anknüpfen. Während Erziehung die Aufgabe habe, zur Realisierung von Kulturwerten zu befähigen, schreibt er der Eugenik, ganz im Einklang mit dem nationalsozialistischen Weltbild, die Funktion zu, dafür günstige Erbanlagen zu schaffen und den Einfluss wertwidriger Erbanlagen zu hemmen.
An den Überlegungen Bauchs und den Kontroversen, die sie ausgelöst haben, zeigt sich exemplarisch, dass eine bis heute dominierende Rezeptionsstrategie, die zwischen Werk und Autor, philosophischer Leistung und politischer Betätigung strikt unterscheidet, im Einzelfall nicht durchführbar, ja sogar problematisch ist. Es sind vielmehr gerade philosophische Überzeugungen, aus denen hier eine Rechtfertigung nationalsozialistischer Ausgrenzungspraktiken entwickelt wird. Und es zeigt sich, dass diese Überzeugungen auch nicht ohne weiteres als vorübergehende opportunistische Anpassung an den Zeitgeist verstanden werden können. Denn schon über zwanzig Jahre zuvor sind für Bauch „Fragen der Rassenzüchtung“ auf das Engste mit der Frage nach günstigen Bedingungen der Wertrealisierung verbunden (Vgl. Bauch 1921: 17). Auch wenn die konkrete politische Praxis nie als direkte Verwirklichung philosophischer Versuche, sich im Denken zu orientieren, verstanden werden kann, so ist es doch auch nicht möglich, die konkrete Wirkungsgeschichte als äußerlich bleibende Indienstnahme vom eigentlichen philosophischen Gehalt abzuspalten. Bei Heine heißt es: „Und gehn auch Jahre drüber hin,/ Ich raste nicht, bis ich verwandle/ In Wirklichkeit, was du gedacht;/ Du denkst, und ich, ich handle.“
Bauch, Bruno, Vom Begriff der Nation. Ein Kapitel zur Geschichtsphilosophie, Berlin 1916a.
Bauch, Bruno: Brief, in: ders., Der Panther. Deutsche Monatsschrift für Politik und Volkstum, Jg. 4, H6, 1916b.
Bauch, Bruno: Erbanlage, Erziehung und Geschichte, in: Blätter für deutsche Philosophie, H 10, 1936/37, S. 45-68.
Bauch, Bruno: Erbanlage, Erziehung und Geschichte, in: Blätter für deutsche Philosophie, 15, 1941.
Bauch, Bruno: Mein Rücktritt von den Kant-Studien. Eine Antwort auf viele Fragen, in: Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 9. Zu Philosophie und Politik, Hamburg 2008.
Böhm, Max H.: Vom jüdisch-deutschen Geist, in: Preußische Jahrbücher 162, 1915.
Cassirer, Ernst: Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch, in: ders., Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 9. Zu Philosophie und Politik, Hamburg 2008.
Cohen, Hermann: Brief an Paul Natorp vom 6.11.1916, in: Holzhey, Helmut, Cohen und Natorp. Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Band 2, Basel/Stuttgart 1986.
Lübbe, Herman: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Vierter Teil. Die philosophischen Ideen von 1914, Basel 1963.
Schmidt, Raymund: Das Judentum in der deutschen Philosophie, in: Fritsche, Theodor (Hrsg.), Handbuch der Judenfrage, Leipzig 1938 (42. Auflage).
Schöning, Matthias: Bruno Bauchs kulturphilosophische Radikalisierung des Kriegsnationalismus. Ein Bruchstück zur Ideenwende von 1916, in: Kant-Studien, Jg. 98, 2008.
Sieg, Ulrich: Geist und Gewalt: Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013.
Tilitzki, Christian: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Band 1, Berlin 2002.
Vaihinger, Hans: Brief an Oberregierungsrat Dr. Gottfried Meyer vom 21. November 1916, Akten der Kant-Forschungsstelle Mainz.