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Der Historiker Mark Zaurov verweist auf die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit gehörlosen Juden während des Holocaust und stellt Unterrichtsmaterialien hierfür vor.
Mit der Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung vor zehn Jahren deklarierte die Bundesrepublik Deutschland Inklusion zu ihrem gesellschaftlichen Modell. Die Umsetzung der nun bindenden Gesetzgebung wurde seitens der Politik unterschätzt. Die Vorstellung, mit dem Bau von Rampen und dem Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher_innen wäre Inklusion vollzogen, ist schlichtweg irreführend. Im Ringen um die Auslegung des nun schillernden Begriffes geriet der Grundgedanke der Inklusion, nämlich eine grundsätzlich neue Machtverteilung bezüglich der Gestaltung des Zugangs von Menschen mit Behinderung zur Gesellschaft, in den Hintergrund: Partizipation. Das Motto der Selbstorganisationen von Menschen mit Behinderung „Nicht ohne uns über uns“ greift für die Mitgestaltung aller gesellschaftlicher, demokratischer Prozesse von Anfang an.
Der Empowermentgedanke bezüglich der Partizipation von gebärdensprachlichen Menschen ist im Artikel 30, Abs. 4, der UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention) verankert und sieht die Förderung der Gehörlosenkultur vor. Das bedeutet, dass Inklusion für taube Menschen über Individualrechte hinausgeht, also Kollektivrechte zu berücksichtigen sind. Für die Bildungs- und Kulturpolitik bedeutet die Förderung der Gehörlosenkultur im Zuge der Partizipation beispielsweise, die Deaf History, also die Geschichte der tauben Gemeinschaft, in den Geisteswissenschaften zu etablieren. Dies geschähe zunächst durch Grundlagenforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) oder Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden sollte. Deaf History müsste an den Schulen unterrichtet und vom Kultusministerium als Teil des Geschichtsunterrichts im Sinne von Inklusion in allen Schulformen unterstützt werden. Ebenso müssten Museen und Gedenkstätten, vor allem im Zusammenhang mit der NS-Ära, Deaf History thematisieren. Bis dato erfahren taube Menschen lediglich aus stereotypen Darstellungen, was damals in der NS-Zeit mit ihnen passierte. Dem Geiste der deutschen Demokratie entspräche jedoch, dass die Gesellschaft die Voraussetzungen für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für all ihre Bürger schüfe.
Auch das Leben und Wirken gehörloser Juden und Jüdinnen sowie ihre Geschichte werden nicht unterrichtet (siehe u.a. Zaurov 2003; 2014; 2015a & b; 2016). Bislang gab es kaum Unterrichtsmaterial über den Holocaust, das auf gehörlose Kinder, Jugendliche und Erwachsene zugeschnitten gewesen wäre. Um erste Anfänge möglich zu machen, wurde innerhalb eines Projekts von der Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland e.V. (IGJAD) Unterrichtsmaterial auf DVD erstellt. Dieses Projekt wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), der Jewish Claims Conference(JCC) und der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft gefördert.In Deutscher Gebärdensprache schildert der taube Historiker Mark Zaurov die unterschiedlichsten Biografien tauber Juden und Nationalsozialisten aus der Zeit des Deutschen Reiches. Den Nutzern dieser DVD (Win/Mac) eröffnet sich ein differenziertes Bild der deutschen Gehörlosengemeinschaft vor und nach 1933. Darin wird auch eine taub-jüdische Welt beleuchtet, deren Andenken bislang verschüttet war (Zaurov 2013: 246-255).
Die wissenschaftliche Grundlage für die DVD ist die Forschung des Autors selbst. Mark Zaurov begründete den Begriff Deaf Holokaust (Zaurov 2009: 173-197) und trug aus weltweit verstreuten Archiven Dokumente zusammen, um den von ihm vorgestellten Biographien Gestalt zu verleihen. Entgegen geläufiger Annahmen ist das sich aus diesem Mosaik der Lebensgeschichten ergebende Bild geprägt von einem fruchtbaren Miteinander von tauben Juden und Nichtjuden. Spannende, kaum erforschte Aspekte wie taube Nationalsozialisten, Pfeilkreuzer und taube Juden als Zwangsarbeiter werden eingebracht. Obwohl taube Menschen unter das sog. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fielen, fand der Nationalsozialismus auch unter gehörlosen Menschen begeisterte Anhänger. Sie ließen sich freiwillig sterilisieren, beteiligten sich in der SA und gingen gegen taube Juden und Jüdinnen antisemitisch vor. Die althergebrachte Annahme, dass die meisten tauben Menschen, ob jüdisch oder nicht, als Opfer der Aktion T4 zu beklagen sind, wird mit der Nachzeichnung von Biographien widerlegt. Die Aktion T4 vernichtete ausschließlich seelisch und ‚geistig’ kranke nichtjüdische taube Menschen. ‚Erbkranken’ nichtjüdischen tauben Menschen und ‚Mischlinge’ waren hingegen nur von Zwangssterilisierung betroffen. Welches Schicksal taube Juden und Jüdinnen traf und wie einzelne überlebten ist Gegenstand des Deaf Holokaust.
Lehrende von Förder-, Regel- und weiterführenden Schulen und der Erwachsenen-bildung, sowie Wissenschaftler_innen verschiedener Fachrichtungen, beispielsweise der Holocaust Studies, Jewish Studies, der Deaf Studies oder der Kulturwissenschaften und Gebärdensprachpädagogik, finden hier den aktuellen Stand der Forschung verbunden mit Anregungen zu einer Pädagogik der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Für Fachleute der Gehörlosengemeinschaft sowie der Gebärden-sprache, z. B. Gebärdensprachdolmetscher_innen, ist die DVD eine Quelle geschichtlichen Kontexts und Fachvokabulars. Auch andere Interessierte wie taube Eltern können die DVD selbständig nutzen, um ihren Kindern diese folgenschwere Zeit deutscher Geschichte aus der Perspektive der Gehörlosengeschichte nahe zu bringen.
Die Veröffentlichung des partizipativ konzipierten Unterrichtsmaterials gibt nun vielfältigen Akteuren im Bildungsbereich die Möglichkeit, eine Facette der Inklusion im Sinne der UN-BRK zu verwirklichen. Wenn die Geschichten und Schicksale, die in ihr eingebettet sind, sowohl taube, als auch hörende Menschen erreichen, wird der gesamten Gehörlosengemeinschaft, im speziellen der Gruppe der tauben Juden Menschenwürde entgegengebracht. Es bleibt zu hoffen, dass hierdurch eines Tages im Deutschen Historischen Museum, in Jüdischen Museen sowie im Ort der Information des Denkmals für die ermordeten Juden Europas ein Gedenkort für taube Juden im Holocaust eingerichtet wird.
Zaurov, Mark (2003): Gehörlose Juden. Eine doppelte kulturelle Minderheit, Frankfurt 2003.
Zaurov, Mark (2009): Deaf Holokaust. In: Zaurov, Mark/Günther, Klaus-B. (Hg.), Overcoming the Past, Determining its Consequences and Finding Solutions for the Present. A contribution for Deaf Studies and Sign Language Education. Proceedings of the 6th Deaf History International Conference July 31 - August 04, 2006 at the Humboldt University, Berlin (2009), Seedorf: Signum Verlag 2009, 173-197.
Zaurov, Mark (2013): Taube Juden als transnationale „hybrid imagined community" – Ein Forschungsgegenstand im Spannungsfeld von Deaf History und Deaf Studies. In: Das Zeichen, 27. Jg., Nr. 94/2013, 246-255.
Zaurov, Mark (2014): The Deaf Gain of Wladislav Zeitlin (1907-1942): Jewish Scientist and Inventor from Germany. In: H-Dirksen Baumann /Joseph J. Murray (Hg.), Deaf Gain. Raising the Stakes for Human Diversity, Minneapolis: University of Minnesota Press 2014, 255-268.
Zaurov, Mark (2015a): Applying Postcolonial Theory as an investigation of Deaf Jews as a Cultural Minority. In: Eldredge, Bryan et. al. (Hg.), Engaging Theory and Action. Proceedings of the Fourth Biennial Deaf Studies Today! Conference at Utah Valley University April 8-10, 2010, Orem, UT: Utah Valley University Press 2015, 273-283.
Zaurov, Mark (2015b): Deaf Jewish Space and Deaf -Same: The International Conferences of Deaf Jews in the Twentieth Century. In: Friedner, Michele and Kusters, Annelies (Hg.), It’s a Small World, Washington D.C.: Gallaudet University Press.
Zaurov, Mark (2016): Deaf Holocaust’: Deaf Jews and Their ‘True’ Communication in Nazi Concentration Camps. In: Michaela Wolf (Hg.), Interpreting in Nazi Concentration Camps, New York: Bloomsbury, 135-145.
Zaurov, Mark (in Vorb.): Die Erinnerung an die jüdische Gehörlosengemeinschaft und den Deaf Holokaust wiederfinden — eine Frage der Menschenrechte entsprechend der UN-BRK, unter Abgrenzung von den Zwangssterilisationen und der „Aktion T4“. In: Marion Schmidt und Anja Werner (Hg.), Gehörlosigkeit im deutschsprachigen Raum. Neue historische Perspektiven aus Deutschland, Österreich und der Schweiz: transcript.
Zaurov, Mark (Hg.) (in Vorb.): Erinnerungspolitik an Gehörlose Juden in der NS-Zeit (mit den Panels vom 6th DHI in HU Berlin in 2006 und im Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in 2011), Berlin: Frank & Timme Verlag.