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Beim Lernen mit Biografien geht es grundsätzlich darum, sich mit Lebensgeschichten auseinanderzusetzen, um sich Ereignissen einer historischen Epoche aus einer subjektiven Perspektive anzunähern. Im Kontext des Nationalsozialismus wird dies meist als ein Lernen anhand der Verfolgungsgeschichte von Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik verstanden. Damit steht das Zeugnis der Überlebenden des Nationalsozialismus – heute oft mit dem vagen Begriff des Zeitzeugen belegt – im Mittelpunkt. Biografisches Lernen in der Auseinandersetzung mit Täter_innen, Bystandern, Belasteten etc. ist in diesem Kanon bestenfalls ein randständiges Element.
Da die Vorstellung der Zeitzeugenschaft eng mit Fragen des historischen Lernens anhand von Biografien verknüpft ist möchte ich mit einem bekannten und irritierenden Zitat von Primo Levi zur Frage der Zeugenschaft beginnen:
»Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. [...] Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit; wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.«
Werden die Zeilen von Primo Levi wortwörtlich verstanden, so gibt es keine überlebenden Zeitzeugen der deutschen Vernichtungspolitik. Diejenigen, die in den Gaskammern von Auschwitz, in Belzec, Sobibor und Treblinka, den Lagern der „Aktion Reinhardt“ vernichtet wurden, sie sind nicht mehr. Von ihnen blieb häufig nicht mehr als ein anonymes Massengrab, meist also nicht einmal ein Ort an dem die Hinterbliebenen heute trauern können. Die Täter waren ausgesprochen bemüht, keine Zeugen ihres Mordens zu hinterlassen.
Gleichzeitig sträubt sich das Alltagsbewusstsein und das Vermittlungsbestreben unserer Arbeit als Pädagog_innen gegen die Aussage Primo Levis. Wissen wir doch von den unzähligen aufgezeichneten Berichten von Überlebenden, die in den Archiven aufgezeichnet sind. Allein das Archiv der von Steven Spielberg ins Leben gerufenen Shoah Foundation an der University of Southern California (USC) umfasst über 50.000 Interviews.
Wir kennen den Bericht von Yehuda Lerner über den Aufstand und seine Flucht aus Sobibor, der in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" spricht. Ja selbst überlebende Häftlinge des sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz haben in schriftlicher und visualisierter Form Zeugnis abgelegt. So Jakow Silberberg, den Karl Fruchtmann 1987 in seinem Film „Ein einfacher Mensch“ portraitiert hat.
Auch schriftliche Überlieferungen können für etwas Zeugnis ablegen. Der Charakter von Ego-Dokumente wie Briefen, Tagebüchern, Lebensberichten ist freilich ein anderer. In Ihnen hinterlassen die Verfolgten ein Zeugnis ihrer Leidensgeschichte, ihres Widerstandes oder ihrer Überlebensstrategien. Diese Ego-Dokumente stehen für die Opferperspektive. Doch schon in den medial aufgenommenen oder transkribierten Aufnahmen von Aussagen während der NS-Prozesse verschwimmt die Eindeutigkeit, die darauf beruht, es handele sich ausschließlich um ein Zeugnis aus der Ego-Perspektive. So waren bereits die gewählten Kameraperspektiven im Eichmann-Prozess Teil der Inszenierung Dritter.
Die Dokumente aus den Archiven, hier insbesondere die des International Tracing Service (ITS), stehen für unterschiedliche Perspektiven: Sie können solche von Täter_innen sein, wenn es etwa um Aktenbestände aus den Konzentrationslagern geht. Oder sie repräsentieren die bürokratische Sicht derjenigen aus Hilfsorganisationen, die mit den Überlebenden zu tun hatten. Auch diese Dokumente sind Zeitzeugnisse, wenn auch aus der Sicht der Täter oder Dritter.
Das Lernen mit Biografien oder biografischen Elementen bietet die Möglichkeit, die Heterogenität der Verfolgten aufzeigen; dies gilt insbesondere, aber nicht nur, für die jüdischen Verfolgten, die erst von der nationalsozialistischen Ideologie homogenisierend zu DEN JUDEN gemacht wurden. Bei der Beschäftigung mit NS-Geschichte ist es zudem notwendig, sich auch Biografien anderer Verfolgtengruppen zuzuwenden, um einer in der Praxis bestehenden Hierarchisierung von Verfolgtengruppen, die eine Marginalisierung dieser Gruppen zur Folge hat, entgegenzuwirken.
Es ist ein trauriger Umstand, dass dem nationalsozialistischen Völkermord an Sinti_ze und Rom_nja, der seine Spezifik hat, bestenfalls an zweiter Stelle erinnert wird. Auch das nahezu bruchlose Weiterwirken von Antiziganismus nach 1945, das sich anhand von Biografien aus der Minderheit der Sinti und Roma oder mit Archivdokumenten aufzeigen lässt, wird im Vergleich zum sekundären Antisemitismus wenig angesprochen. Etwas stärker in den Fokus gerückt sind in den letzten Jahren die mörderisch ausgebeuteten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. In manchen Seminaren werden Biografien von Homosexuellen in den Konzentrationslagern aufgegriffen. Thematisiert werden inzwischen zunehmend auch die NS-Krankenmorde und die Aktion T4.
Doch wer arbeitet pädagogisch zu und erinnert an die zweitgrößte Opfergruppe? Das sind die ungefähr 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Wo findet die Auseinandersetzung mit den sogenannten Asozialen oder den angeblichen Berufsverbrechern Eingang in die Bildungsarbeit? Selbst die ersten Verfolgten des NS-Staates, Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen, erfahren heutzutage eine eher randständige Aufmerksamkeit. Die in der Praxis immer wieder stattfindende, meist ungewollte, Opferhierarchisierung ist vor allem, aber nicht nur, eine seitens der Dominanzgesellschaft.
All diese Gruppen sind nicht einfach „vergessene Opfer“ – sie wurden und werden im Erinnerungsdiskurs marginalisiert. Sicherlich, es gibt in Archiven und erst recht in Selbstzeugnissen so gut wie keine vollständigen Biografien von sogenannten Asozialen und denen, die gezwungen waren den grünen Winkel der Berufsverbrecher zu tragen. Im Archiv des ITS – und nicht nur dort – finden sich jedoch biografische Spuren für sehr unterschiedliche Verfolgtengruppen.
Zeitzeugengespräche und die Arbeit mit gespeicherten Interviews von Überlebenden werden in pädagogischer Absicht genutzt, um Geschichte von der subjektiven Seite erfahrbar machen und dadurch zugänglich machen. Gleichzeitig bedeutet Subjektorientierung auch, so Matthias Heyl, »die Jugendlichen in die Lage zu versetzen, eine historische Situation und ihre eigenen Bezüge zu ihr zu analysieren, um nach Mitteln und Wegen suchen zu können, eine eigene Position zur vorgefundenen historischen Situation im Sinne ihrer eigenen Interessen zu finden.« Dazu ist eine Distanz zu Tätern und Opfern notwendig, die im Zeitzeugengespräch mit einer hohen emotionalen Dichte nicht zwangsläufig gegeben ist. Dokumente aus Archivbeständen können, da sie indirekt über eine Person berichten, mit dazu beitragen diese Distanz zu schaffen.
Es ist dem großen Historiker Saul Friedländer zu verdanken, dass Geschichte zunehmend als »integrierte Geschichte« erzählt wird, die die Opferperspektive berücksichtigt und zentral aufgreift. Dafür stehen unter anderem (videografierte) Interviews mit Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik. Der von Friedländer für die verfolgten Jüdinnen und Juden gedachte Ansatz ist nicht nur auf sie zu beschränken. Im Kern geht es darum nicht nur die Perspektive der Täter_innen, nicht nur die Ereignis- und Strukturgeschichte, sondern auch die Perspektive der Opfer in den Blick zu nehmen und zu vermitteln. In diesem Zusammenhang geht es auch darum, die Lebensgeschichte der Verfolgten vor und, bei Überlebenden, nach der Verfolgung zu erzählen und auch ihre Reaktionen auf die Verfolgung und Entscheidungen zum Thema zu machen, um die Menschen nicht auf den Opferstatus zu reduzieren. Für mich bleibt dabei jedoch ungeklärt, ob nicht durch die Verabsolutierung dieser an sich richtigen Perspektive in der Bildungsarbeit, die Auseinandersetzung mit Täterschaft in den verschiedensten Abstufungen unterbleibt – letztlich mit dem Effekt einer Affirmation der postnationalsozialistischen Gesellschaft, die um den Preis der Verdrängung eigener Verantwortung und »zweiter Schuld« (Giordano) sich über die Identifizierung mit den Opfern und durch deren Sakralisierung zu entschulden meint.
Dies führt mich zu der Frage nach der Zielsetzung der Beschäftigung mit Biografien im pädagogischen Rahmen. Was soll mit Zeitzeugnissen, beziehungsweise in der Auseinandersetzung mit Biografien erreicht werden? Geht es um Betroffenheit und Emotionalisierung? Um, vor allem mit Blick auf die Auswertung historischer Dokumente, die bloße Rekonstruktion von Biografien? Steht der Mythos von Authentizität im Vordergrund? Oder geht es um die Vermittlung der Ereignisgeschichte aus einer subjektiven Perspektive? Wie auch immer die konkrete Zielsetzung in der Bildungsarbeit oder im Schulunterricht aussehen mag, bei der Arbeit mit Biografien muss, wie bei jeder anderen Quelle, und das kann nicht oft genug betont werden, die historische Einbettung in die Geschichte des Nationalsozialismus erfolgen. Die im Schulunterricht geforderte narrative Kompetenz lässt sich nur entwickeln, wenn hinter dem starken Charakter von Zeitzeugengesprächen und Ego-Dokumenten der historische Kontext nicht verschwindet.
Für das Lernen mit Biografien wie für die Arbeit mit biografischen Archivdokumenten ist es also weder hinreichend, noch ausreichend, einzelne Biografien isoliert zu betrachten und sich ausschließlich mit der Verfolgungsgeschichten Einzelner zu beschäftigen. In der pädagogischen Arbeit müssen wir, und das begreife ich durchaus normativ, die Ideologien – in erster Linie Antisemitismus und Rassismus –, gesellschaftliche und politische Prozesse – wie die Radikalisierung der NS-Politik im Krieg und die mitunter konkurrierenden Interessen von NS-Institutionen –, sowie kulturelle Zusammenhänge offenlegen. Und auch die konkreten Umstände und historischen Anlässe gilt es in den Blick zu nehmen, etwa anhand der Geschichte der Konzentrationslager. Demzufolge ist die Vermittlung der Ereignis- und Strukturgeschichte des Nationalsozialismus unabdingbar für die Einordnung der Biografien und der individuellen Leidensgeschichten. Hierfür immer noch von Bedeutung ist das Leitmedium Schulbuch, obwohl es hier immer wieder Problemanzeigen beispielsweise in der Darstellung von Jüdinnen und Juden gibt, die kaum als tätig Handelnde gezeigt werden.
Auf die oben angeführten Prozesse kann mittels biografischer Fragmente auch aus Aktenbeständen geschlossen werden. Diese bestehen teilweise aus Dokumenten der Täterseite. In einem ersten Schritt bei der Archivarbeit sollte also die Provenienz der Quelle offengelegt werden um zu verstehen, wessen Perspektive vorliegt. Dementsprechend gilt es, den Gehalt von Angaben quellenkritisch zu betrachten. Viele Dokumententypen (z.B. Schreibstubenkarten aus den Konzentrationslagern) erklären sich nicht aus sich selbst heraus. Im Gegensatz zum Zeitzeugengespräch oder zu videografierten Interviews muss das Material aus den Archiven entdeckt und zusammengesetzt werden. Das allein setzt eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Gegenstand voraus. Eine Biografie liegt den Teilnehmenden nicht bereits fertig vor, sie müssen sie ergründen bzw. regelrecht erforschen. Dieser forschende Ansatz bietet besondere Möglichkeiten der Differenzierung im biografischen Lernen.
Hinzu kann noch die, sogar wahrscheinliche, Schwierigkeit kommen, dass sich aus dem Archivbestand nur Bruchstücke einer Biografie rekonstruieren lassen. In solchen Fällen sind die biografischen Elemente jedoch nicht ungeeignet für das historische Lernen. Vielmehr gilt es dann die Gründe und Hintergründe für die Lücken zu erforschen, diskutieren und darzustellen. Biografische Leerstellen können dabei symbolisch auch für die Brüche in der jeweiligen Biografie, bzw. des Biografiefragments dienen, die erst durch die Verfolgung bis hin zur Ermordung ausgelöst wurden. Ein Ziel kann es dabei sein zu erforschen, welche Aspekte eines Menschenlebens in den Akten aus Tätersicht nicht vorkommen, also wie die Aktenlage bereits die noch Lebenden entwirklicht und ihrer Menschlichkeit beraubt. Die Analyse von Moishe Postone, dass die nationalsozialistischen Täter_innen und ihre kollaborierenden Helfershelfer_innen aus den verfolgten Jüdinnen und Juden Schatten, Nummern und Abstraktionen gemacht haben, erfährt gerade an den biografischen Fragmenten der Dokumente aus dem ITS-Bestand ihre Konkretion.