Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Das Thema kollektiver und individueller Schuld, direkter oder indirekter Beteiligung an einem Menschenrechtsverbrechen oder auch nur Mitwisserschaft hat die Holocaust-Forschung in den letzten Jahrzehnten zunehmend beschäftigt. Es wurde deutlich, dass die Grenzen zwischen Schuld, Nichteingreifen und Widerstand nicht immer eindeutig zu bestimmen sind. Die verschiedenen Versuche, diesen problematischen Komplex mit dem Begriff der Kollaboration zu erfassen, stießen bald an ihre Grenzen. Es zeigte sich, dass die Verstrickung von Personen, Personengruppen oder ganzer Völker in die Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung nicht nur weiterhin aufwändige empirische Forschung benötigt, sondern ebenso methodische Ansätze, die weit über das traditionelle Werkzeug des Historikers hinausgehen. Die Analyse menschlicher Verhaltensmuster generell und in Extremsituationen führten in Bereiche der Psychologie, ein sachlicher Umgang mit Schuldfragen verlangte eine juristische Herangehensweise. Jeder Fall stellt sich anders dar, jede involvierte Gruppe erfuhr und beobachtete die Ereignisse aus ihrer eigenen Perspektive und Prioritätensetzung heraus. Die langen Jahre der Erinnerungsüberlagerungen taten ein Übriges. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurden die schwierigen Fragen des Holocaust über Jahrzehnte hinweg verdrängt und tabuisiert. Landesgeschichten wurden verfälscht und neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überformten das Gedächtnis der deutschen Besatzung und der Verfolgung von Juden und anderen Bevölkerungsgruppen. Der Fall Lettlands stellt dabei keine Ausnahme dar. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Unabhängigkeit des Baltikums und der Öffnung der Archive entluden sich diese verdrängten Fragen von erlittenem und erteiltem Unrecht gleichsam als eine Welle gegenseitiger Schuldzuweisungen und fehlgeleiteten Diskursen. Beiden Seiten, lettischen Historikern wie jüdischen Überlebenden, fiel es schwer, das eigene erfahrene Leid bzw. Schuldzuweisungen perspektivisch einzuordnen bzw. die Ereignisse der sowjetischen und deutschen Okkupation in einen adäquaten Kontext miteinander und mit der lettischen Landesgeschichte zu setzen.
Insbesondere im Lauf des letzten Jahrzehnts haben einige lettische Historiker zunehmend versucht, emotional zurückhaltende Erklärungsansätze zu den schrecklichen Ereignissen zu finden und dies mit überzeugenden empirischen Details hinterlegt. Jedoch ist gegenwärtig gleichermaßen eine Tendenz in der lettischen Historiographie zu beobachten, die auf eine Hinwendung zur Darstellung der ausschließlichen Opferrolle Lettlands als Objekt der NS-Besatzungspolitik schließen lässt. Darin wird selbst vor einer Rückbesinnung auf die sogenannte Präventivkriegsthese nicht Abstand genommen. Die Memoiren jüdischer Überlebender sind, im Vergleich zu den anfänglichen Darstellungen, weit differenzierter und detailgetreuer geworden und bilden einen wichtigen Bestandteil der historischen Forschung. Ebenso nahmen auch jüdische Historiker weit mehr Bezug auf die Spezifika der lettischen Geschichte und bereicherten diese mit ihrer eigenen Perspektive.
Die Schuldfrage war nicht Thema meines Buches. Auch habe ich mich gegen eine Anwendung des Begriffs der Kollaboration bei dieser Problematik gewehrt. Zu kausal und einseitig ist dieser Begriff an Okkupationsmodelle geknüpft und negiert die Facetten menschlichen Verhaltens unter Extremsituationen. In meiner Studie habe ich versucht, den Details des Verbrechens genauer auf den Grund zu gehen. Natürlich war es nicht möglich, jeden Fall eines Letten, der in Berührung mit der Verfolgung der Juden kam, individuell nachzugehen und zu analysieren. Ich habe jedoch im Rahmen einer vertretbaren Länge des Textes versucht, das an den Juden begangene Verbrechen in seinen einzelnen Schritten und Maßnahmen wie Ausgrenzung, Terrorisierung, Entrechtung, Enteignung, Ausbeutung von Arbeitskraft, Ermordung sowie in seinem jeweiligen Kontext lettischer Involvierung darzustellen. Und ich habe versucht, die lettischen potentiellen Täter in Gruppen zu teilen und Kollektivportraits zu erstellen. Dies alles habe ich in den Kontext der Landesgeschichte eingebettet und mich dabei verschiedener methodischer Ansätze bedient. In der Studie Christopher Brownings habe ich ein grundlegendes Modell zur Tätergruppierung und zur Dynamik verbrecherischen kollektiven Handelns gefunden, das ich in den Kontext der lettischen Beteiligung insbesondere an der Ermordung der Juden anwenden konnte. Herausgekommen ist ein Gesamtbild, das nach wie vor viele Fragen offen lässt, jedoch zu wichtigen Aspekten hinsichtlich der lettischen Rolle in der Judenverfolgung Antwortmöglichkeiten und Details bietet: Wie verhielt sich das Gros der Gesamtbevölkerung angesichts des Verbrechens an den Juden generell, was bestimmte das Handeln der meisten Einwohner Lettlands und welche Gewichtung nahmen die einheimischen Täter dabei ein?
Im Folgenden möchte ich einige Grunddaten zur Judenverfolgung in Lettland aus der Sicht der Opfer wie auch aus lettischer Perspektive geben und im Anschluss daran mehrere Beispiele lettischer Reaktionen auf die Judenverfolgung vorstellen. Dabei möchte ich das mögliche Spektrum der Reaktion von Letten auf die NS-Judenpolitik anhand mehrerer Beispiele umreißen: 1. aktive Täterschaft und Mittäterschaft am Beispiel des Erschießungskommandos unter Viktors Arajs, 2. Enthaltung und bedingte passive Involvierung bzw. Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden am Beispiel der Enteignung der Opfer und 3. Verweigerung, Widerstand bzw. Solidarität mit den verfolgten Juden. Als Fazit aller dieser Komplexe soll zusammenfassend geklärt werden, inwieweit diese Fallbeispiele einen Querschnitt der lettische Gesellschaft darstellen bzw. wie repräsentativ sie sein können, um als Aussage für die gesamte Bevölkerung zu dienen.
Als sich die deutsche Wehrmacht, beginnend mit dem ersten Tag des "Unternehmens Barbarossa" 1941, auf Lettland zu bewegte, war das Schicksal der dortigen Juden auf höchster Führungsebene längst beschlossen worden. Reinhard Heydrich, Chef des RSHA, hatte in einer mündlichen Anweisung vom 17. Juni 1941 zusammenfassend befohlen, dass unter anderem "Juden in Partei- und Staatsstellungen" zu liquidieren seien. Diesen Anordnungen waren bereits im März 1941 eine Erweiterung der kriegsgerichtlichen Befugnisse der Sicherheitspolizei sowie eine Erweiterung der Zielgruppen bei der Führung dieses Vernichtungskriegs vorangegangen. Dementsprechend hatten die vier Einsatzgruppen, mobile Mordkommandos des RSHA, nahezu unumschränkte Verfügungs- und Aktionsgewalt und begannen im Rücken der vorrückenden Wehrmacht im Baltikum unverzüglich mit Massenmorden an der jüdischen Zivilbevölkerung. Der Grund für die geplante allumfassende Vernichtung des lettischen Judentums lag jedoch nicht allein im generell aggressiven Charakter des Vernichtungsfeldzuges. Langfristig war vorgesehen, die Territorien der baltischen Staaten für eine Germanisierung der Ostgebiete Europas zu nutzen und sogenannte "rassisch unerwünschte Elemente" auszusiedeln. Die Rolle von einheimischen Bevölkerungsteilen als Handlanger in diesem Mordunternehmen war ebenfalls im Voraus fest einkalkuliert worden.
Am 29. Juni 1941 hatte Heydrich die Einsatzgruppenchef dahingehend instruiert, dass "den Selbstreinigungsbestrebungen antikommunistischer oder antijüdischer Kreise in den neu zu besetzenden Gebieten kein Hindernis" zu bereiten seien. "Sie sind im Gegenteil, allerdings spurenlos auszulösen, zu intensivieren wenn erforderlich und in die richtigen Bahnen zu lenken, ohne dass sich diese örtlichen ´Selbstschutzkreise´ später auf Anordnungen oder auf gegebene politische Zusicherungen berufen können." In beiden Dokumenten wird deutlich, dass die Rolle beider Bevölkerungsgruppen Lettlands, der Juden und der Letten, klar umrissen war - Vernichtung für die Einen, Handlangerdienste durch die Anderen. Den NS-Besatzern war sehr wohl bewusst, welchen Boden sie betraten und inwieweit sie die Situation Lettlands und die Stimmung der Bevölkerung zur Realisierung dieser Planungen und zur Manipulation großer Bevölkerungskreise nutzbar machen konnten. Nach einem Jahr sowjetischer Herrschaft, den viele Letten zumeist als Terror erfahren hatten, handelte es sich um eine traumatisierte Gesellschaft, deren soziales kollektives Verhalten ernsthaften und langfristigen Schaden genommen hatte. Für viele Letten bedeutete die Anwesenheit der deutschen Streitkräfte eine Wiederherstellung einer wie auch immer gearteten Ordnung - und Vielen erschien jede Ordnung eine bessere Alternative zur sowjetischen Okkupation zu sein.
Die Reaktion vieler Letten, die die deutschen Wehrmachtssoldaten als Befreier begrüßten, war für die Besatzungsmacht eine leicht zu kalkulierende und voraussehbare Komponente bei der Besetzung des Landes gewesen. Dies war in den höchsten Kreisen der NS-Führung bekannt. Ein zweiter Schritt war es, die sofort aufgedeckten Verbrechen des Stalinschen Regimes der jüdischen Bevölkerung anzulasten. Bei diesem manipulativ-propagandistischen Schachzug konnten die deutschen Besatzer auf bereits vorhandene Muster des lettischen Antisemitismus und die Unmittelbarkeit der erlebten sowjetischen Schreckensherrschaft aufbauen. Große Teile vor allem der jungen Bevölkerung Lettlands waren durch die einjährige Erfahrung des Terrors verroht und kriminalisiert, und so genügte an vielen Orten lediglich die Präsenz der deutschen Truppen, um das Feindbild des jüdischen Bolschewismus in blanke Gewalt eskalieren zu lassen. Die Juden Lettlands erfuhren die ersten Schritte des Verfolgungsprozesses in der exzessiven Gewaltwelle des Sommers und Frühherbstes 1941. Die Morde der Einsatzgruppe A, die unter der Führung von SS-Brigadeführer Dr. Walter Stahlecker im Baltikum bis zum 15. Oktober 1941 insgesamt 124.000 Juden das Leben kosteten, stellten nur einen Aspekt der Gewaltausschreitungen dar. Lettische sogenannte Freiwillige, Aktivisten und Selbstschutzleute, die die Willkür der Situation dazu genutzt hatten, sich zu bewaffnen, gingen mit massiver Gewalt gegen Juden und vermeintliche Kommunisten vor. Bei diesen blutigen Ausschreitungen sowie den Erschießungen der EG A wurden bis zum 1. Februar 1942 im besetzten Lettland 35.238 Juden getötet. Beim Einmarsch der deutschen Truppen hatten sich von den vorher ca. 93.000 lettischen Juden noch ca. 70.000 Personen im Land befunden; viele Juden waren Opfer des sowjetischen Terrors geworden oder hatten fliehen können.
Die verbliebenen Juden saßen jetzt buchstäblich in der Falle und sahen sich, wie der Überlebende Bernhard Press beschrieb, von einem Meer von Hass umgeben, der sich in diesen Wochen willkürlicher Treibjagd und Lynchjustiz entlud. Dr. Rudolf Lange, Chef des EK 2 der EG A in einem Bericht notierte: "Das Ziel, das dem EK2 von Anfang an vorschwebte, war eine radikale Lösung des Judenproblems durch die Exekution der Juden." Sein Einsatzkommando sowie das EK 1b operierten in dieser Weise im Rücken der Wehrmacht. Die Zielgruppe dieser ersten Massenerschießungen waren zumeist jüdische Männer, jedoch wurden mancherorts bereits ganze Familien Opfer der Massaker. Der lettische Selbstschutz operierte parallel und teilweise in Zusammenarbeit mit der Einsatzgruppe und die Menschen wurden an die Ortsausgänge getrieben, mussten in vielen Fällen ihre Gräber selbst ausheben und wurden erschossen. Den Juden blieben angesichts dieser ausweglosen treibjagdähnlichen Situation nur spekulative und eingeschränkte Rettungsversuche. Die Eigeninitiative vieler Letten bei diesen Massenmorden wurde häufig als losgelöst von deutschen Befehlen und der Präsenz der deutschen Truppen in einem Machtvakuum bzw. Interregnum interpretiert. Es hat nachweislich kein solches Interregnum gegeben. Das Land wurde flächendeckend und in sehr kurzem Zeitraum okkupiert. Auch wenn das Vorgehen von Letten gegen die Juden in vielen Fällen keiner deutschen Befehle bedurfte, so kann es ohne die initiierende Wirkung der Anwesenheit der Wehrmacht und der Einsatzgruppe nicht erklärt werden. Es gab ebenfalls eine Reihe von Fällen, in denen der deutschen Sicherheitspolizei lettisches eigenmächtiges Handeln gegen die jüdische Bevölkerung zu weit ging und den ordnungsgemäß geplanten Ablauf der Verfolgung störte. Auch war eine unkontrollierte Bewaffnung der Letten absolut nicht vorgesehen.
Nach der vollständigen Besetzung der größeren Städte, zunächst Daugavpils, danach Riga und Liepaja, bemühte sich die Einsatzgruppe A umgehend, erstens, um die Etablierung von verbindlichen und längerfristigen Regeln in der sogenannten Judenfrage und, zweitens, um die Koordinierung und Kontrolle der lettischen Hilfswilligkeit im gewünschten besatzungspolitischen Sinn. Für die Juden bedeutete dies eine Flut von Verboten und Regeln, die ihre Rechte als Staatsbürger gleichsam zunichtemachten, die Einschränkung ihres Wohnraums durch den Befehl zur Ghettoisierung, die Abgabepflichten hinsichtlich ihres Eigentums und Zwangsarbeit. All diese Verfolgungsmaßnahmen hatten zunächst improvisierten Charakter, wurden jedoch rasch institutionalisiert. Die ersten Vorschriften zur Kennzeichnung der Juden waren vom Ermessen der jeweiligen Wehrmachts-Ortskommandantur abhängig und entsprechend uneinheitlich. Auch Schikanen waren vom Willen des jeweiligen Ortskommandanten diktiert. So verbot beispielsweise der Kommandant der Stadt Riga den dortigen Juden das Schlangestehen vor den Geschäften. Dabei ist ersichtlich, dass die ersten Vorschläge zur Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung in abgeschlossenen Wohnbezirken bereits am 21. Juli 1941 von Seiten des Wirtschaftskommandos der Wehrmacht für das Gebiet des ehemaligen Lettlands kamen. Die Schaffung von Ghettos wurde in engem Zusammenhang mit dem Einsatz der Juden zur Zwangsarbeit gesehen, insbesondere angesichts der notwendigen Sicherung der Versorgung des Heeres im weiteren Verlauf des Ostfeldzuges. Die Militärverwaltung übertrug ihre Befugnisse am 1. September 1941 an die Zivilverwaltung, an das Reichskommissariat Ostland bzw. Generalkommissariat Lettland, die die weiteren Schritte in den wichtigsten wirtschaftlichen Fragen der Judenverfolgung, der Zwangsarbeit, Ghettoisierung und der Enteignung des facto übernahm. Die entsprechenden Erlasse wurden jedoch bereits Anfang August 1941 formuliert und betrafen der Meldepflicht für Juden, Verbote, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Berufsverbote für Juden im Medizin-, Rechts- und Finanzbereich, Anmeldung und Abgabe ihrer Vermögenswerte sowie die Definition der Juden im rassischen Sinn.
Im Gegensatz zu diesen Maßnahmen behielt sich die Sicherheitspolizei die Aufgabe der Terrorisierung, Verhaftung und Ermordung von Juden vor. Die erste Welle der wilden Ausschreitungen war zwar vorüber, jedoch kam es zu keiner wirklichen Unterbrechung der massenhaften Ermordung von Juden. In der zweiten Welle des Terrors vor der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung gelang es der deutschen Sicherheitspolizei, den anfangs wilden und "bunt zusammengewürfelten Haufen" freiwilliger Letten zu einer funktionierenden lettischen Hilfspolizei mit eindeutig abgegrenzten und definierten Aufgabenbereichen umzustrukturieren. Diese uniformierte Polizei konnte längerfristig eingesetzt werden und bewegte sich in den von den deutschen Besatzern gewünschten Disziplinstrukturen. Die weiterhin benötigten radikal gesinnten Letten, die zu den extremsten Hilfstätigkeiten, den Morden selbst eingesetzt wurden, konnte Dr. Stahlecker, der Chef der EG A selbst, bereits in den ersten Stunden seines Aufenthalts in Riga ab Anfang Juli 1941 im gewünschten Sinn aufstellen. Er entschied sich, das Angebot des radikalen "Freiwilligen" Viktors Arajs, der ihm mit seinen ca. 200 bewaffneten Männern seine Zusammenarbeit bei der Ermordung von Juden und Kommunisten anbot, anzunehmen und gewann damit einen willfährigen extrem antisemitisch eingestellten Komplizen, der in Eigeninitiative agierte, jedoch auch beim Morden nie den ihm von der deutschen Sicherheitspolizei zugebilligten Kompetenzrahmen überschritt. Unter der Führung des Kommandeurs der Sicherheitspolizei SD Lettland Dr. Lange wurden die Morde an den Juden weitergeführt. Dabei gestaltete sich nicht nur die Kooperation zwischen deutscher und lettischer Polizei weit geordneter und systematischer, auch die Morde selbst wurden nach einem festen Muster durchgeführt. Die jüdischen Opfer, zumeist junge Männer wurden bei systematischen Wohnungsdurchsuchungen oder auch einfach auf der Straße verhaftet.
Häufig wurden Juden, die zur Zwangsarbeit verschleppt wurden, sofort direkt im Anschluss daran ins Rigaer Zentralgefängnis gebracht. Von dort aus wurden sie in regelmäßigen nächtlichen Aktionen im Wald von Bikernieki, am Stadtrand Rigas, erschossen. Die Verhaftenden, das Wachpersonal im Zentralgefängnis sowie die Ausführenden der Morde waren in vielen Fällen Letten, sogenannte Freiwillige, danach Hilfspolizisten und Angehörige des Arajs-Kommandos. In den anderen Städten des besetzten Lettland wurden die verschleppten Juden einige Wochen von den lokalen Polizeikräften in verfügbaren öffentlichen Gebäuden, Schulen, Scheunen oder auch auf der Polizeiwache, festgehalten und von dort zu Zwangsarbeiten zumeist in der Landwirtschaft gezwungen. Zwischen Juli und September 1941 erfolgten die regelmäßigen Erschießungen, und auch außerhalb Rigas waren die Ausführenden der Taten einheimische Polizisten oder Angehörige des Kommandos Arajs. Es wird geschätzt, dass bei den Morden dieser zweiten Gewaltwelle gegen Juden, die bis zur Etablierung der Ghettos stattfanden, ca. 26.000 Menschen ums Leben kamen: 22.000 Juden, 2.000 Kommunisten, 2.000 Sinti und Roma und Geisteskranke. Als die ersten Maßnahmen zur Ghettoisierung eingeleitet wurden, waren im Generalbezirk Lettland von 93.000 noch ca. 40.000 Juden am Leben. Die Schaffung der Ghettos in Lettland sollte nach polnischem Modell erfolgen, jedoch erforderten lokale Unterschiede entsprechende Abweichungen. Die drei im Generalbezirk Lettland errichteten Ghettos in Riga, Daugavpils und Liepaja schrieben jeweils eine eigene Ghettogeschichte und hatten unterschiedliche Zeitpunkte ihrer Entstehung, heterogene Funktionen, Bevölkerungsstruktur, Größe und Überlebenschancen.
Die Rigaer Juden, die den Terror beider Mordwellen zunächst überlebten, bekamen entsprechend den Richtlinien vom 18. August 1941 den Befehl, in ein Ghetto überzusiedeln und einen Judenrat zu schaffen. Nach der langwierigen Umsiedlung, die die Juden ohne Nutzungsrecht der öffentlichen Verkehrsmittel vollziehen mussten, wurde das Ghetto offiziell am 25. Oktober 1941 um 18 Uhr geschlossen. Der Rigaer Judenrat genoss den Ruf, im besten Sinn der Ghettoinsassen und kompetent zu agieren, obgleich das gesamte soziale interne Ghettosystem ein ungeheurer Akt der Improvisation darstellte. Das äußere Wachpersonal wurde aus lettischer Hilfspolizei, insgesamt zunächst 144 Mann, zusammengestellt. Ghettokommandant wurde SS-Obersturmführer und Chef des Judenreferats des EK 2 Kurt Krause. Insgesamt waren 29.602 Juden als Ghettobewohner registriert; ca. 21.000 Frauen und Kinder und 8.200 Männer. Die Nahrungsmittelversorgung der Ghettobewohner, die Enge des Wohnraums (4 Quadratmeter pro Person), die hygienischen Verhältnisse, die Zwangsarbeit und der Terror durch die Wachmannschaften glichen der Situation anderer Ghettos. Dem Rigaer Ghetto waren jedoch in dieser Form und Struktur lediglich ca. zwei Monate gegeben: in zwei großen Mordaktionen wurden am 29./30. November und am 8./9. Dezember 1941 ein Großteil der Ghettobewohner ermordet. Lediglich ca. 4.500 Menschen, größtenteils junge Männer und einige arbeitsfähige Frauen, entgingen den vorangegangenen Selektionen. In den anderen Städten und orten Lettlands waren die meisten Juden bis Spätherbst 1941 ebenfalls ermordet worden. Damit war die jüdische Gemeinde Lettlands de facto ausgelöscht.
Das Ghetto Riga gehörte zu den Deportationsorten für ca. 20.000 reichsdeutsche, österreichische und tschechische Juden. Diese Juden besiedelten das nun leere Rigaer Ghetto und bestimmten bis zu dessen Auflösung im Herbst 1943 dessen Charakter. Ein neuer Judenrat wurde geschaffen, Straßen wurden umbenannt, das soziale Leben im Ghetto folgte neuen Regeln. Am 21. Juni 1943 befahl RFSS Heinrich Himmler, alle Juden im Ostland in Konzentrationslager "nicht unter einer Größe von 1.000 Mann" zu überführen. Die Auflösung des Ghettos und die Umverteilung der fast ausschließlich im Zwangsarbeitsprozess stehenden Juden in das KL Kaiserwald und seine Nebenlager dauerte bis Spätherbst 1943 an. Als mit der veränderten Frontlage die Rote Armee unaufhaltsam auf Riga zurückte, wurden in grausamen Blitzaktionen die bis dahin am Leben gebliebenen Juden großteils per Schiff unter unmenschlichen Bedingungen nach Westen evakuiert; ca. 14.350 Juden gelangten ins KL Stutthof. Die Wege auf deutschem und polnischem Territorium führten weiter westwärts auf "Todesmärschen", denen in den letzten Kriegswochen des harten Winters 1944/45 ein Großteil der Juden zum Opfer fiel. Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass schätzungsweise 1,25% der lettischen Juden (weniger als 1.000 Personen) die NS-Verfolgung nicht überlebt haben, und von den ca. 20.000 nach Riga deportierten Juden nur etwas mehr als 1.100 Menschen diese Maßnahmen überlebten. All dies vollzog sich vor den Augen der lettischen Bevölkerung und unter Mitwirkung von Gruppen Einheimischer, die die antijüdische Verfolgungspolitik aktiv oder passiv unterstützten.
Im Folgenden soll eine aktiv und eigeninitiativ unterstützende Gruppierung näher vorgestellt werden, deren Agieren gegen die jüdische Bevölkerung so weit mit den Interessen übereinstimmte, dass nicht nur von Unterstützung, sondern von der Durchsetzung gleichgelagerter antisemitischer und krimineller Eigeninteressen gesprochen werden kann: das Kommando unter Viktors Arajs. Es handelte sich dabei strukturell, personell und funktional um eine nahezu einzigartige Erscheinung in den besetzten Ostgebieten: Ein mobiles Mordkommando, dessen aggressiver und antisemitischer Charakter das Ausmaß der fast vollständigen Auslöschung des lettischen Judentums überhaupt möglich machte. Zunächst einige grundlegende Daten zu Entstehung, Struktur und zur Tatinvolvierung dieses Kommandos. Als das EK 2 unter der Leitung des Chefs der EG A, Dr. Walter Stahlecker, am 1. Juli 1941 in die Stadt Riga einrückte, hatte Viktors Arajs, ein ehemaliger Jurastudent und Polizeiangehöriger, bereits ca. 100-200 Mann um sich geschart und die Rigaer Polizeipräfektur unter seine Kontrolle gebracht. In einem ersten Treffen mit Stahlecker bereits am Tag des Einmarschs am 1. Juli 1941 bot er ihm unumwunden seine Unterstützung bei den Judenliquidierungen und bei der Jagd auf Kommunisten an. Dies geschah im vollen Bewusstsein der zu leistenden Verbrechen, sowohl für Arajs selbst, als auch für seine Männer. Arajs war auch klar, dass er seine Aktionen im vollen Einverständnis und in absoluter Unterordnung unter die Befehlsgewalt der Sicherheitspolizei durchzuführen hatte. Das für viele Letten wichtige Motiv einer eventuellen Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht, um ein staatlich unabhängiges Lettland wiederherzustellen, spielte hier keine Rolle. Stahlecker legte, bevor er mit Teilen des EK2 nach Leningrad weiterzog, die grundlegenden Befugnisse für das Arajs-Kommando fest und unterstellte es direkt unter die Befehlsgewalt von KdS Lettland Dr. Rudolf Lange. Das Arajs-Kommando erhielt ein Gebäude im Zentrum Rigas als Hauptsitz, in dem sich geeignete Kelleräume zur Inhaftierung von Menschen befanden. Insbesondere jüdische Frauen wurden dort festgehalten, zu Reinigungsarbeiten eingesetzt und regelmäßig vergewaltigt, misshandelt und ermordet. Keiner der sicherheitspolizeilichen Befehle für die Tätigkeit des Arajs-Kommandos ist überliefert, da sie in der Regel telefonisch erfolgten; beide Komplizen waren sich des kriminellen Inhalts ihrer Tätigkeit voll im Klaren und versuchten, keine dokumentarischen Spuren zu hinterlassen.
In Riga folgten mit der Anwesenheit der deutschen Truppen und der Sicherheitspolizei sofort massive Ausschreitungen gegen die Juden, die sich in Terror, Verhaftungen, Erschießungen in Bikernieki und Beraubung der Opfer äußerten. Obwohl die lettischen Aktivisten der ersten Stunde, den jüdischen Überlebenden zumeist als bewaffnete und marodierende Letten mit rot-weiß-roten Armbinden in Erinnerung geblieben, eher unorganisiert waren, gelang es der Sicherheitspolizei, auch dank des Arajs-Kommandos, sehr rasch, die antijüdischen Übergriffe systematisch zu steuern. Ein Höhepunkt war die Verbrennung und Zerstörung nahezu aller Synagogen und jüdischen Bethäuser in Riga unter der Leitung von Viktors Arajs und seinen Männern. Bis Mitte Juli 1941 fanden täglich Massenerschießungen im Wald von Bikernieki statt. Angehörige des Arajs-Kommandos holten die zumeist jüdischen Gefangenen regelmäßig mit Lastwagen im Zentralgefängnis ab, brachten sie zur Exekutionsstätte und ermordeten sie dort. Das dazu festgelegte Erschießungskommando bestand aus 25 Mann, die in der Regel auf jedes Opfer jeweils zwei Schüsse abgaben. Es wird geschätzt, dass in der zweiten Welle der Gewalt gegen die Rigaer Juden bis zur Ghettoisierung im Oktober 1941 ca. 9.000 Menschen in Bikernieki den Tod fanden. Das Arajs-Kommando war ebenfalls an der zweiten großen Ermordungsaktion zur Liquidierung des Rigaer Ghettos am 8./9. Dezember 1941 beteiligt. Arajs selbst soll nach Aussage einer überlebenden Zeugin ausgerufen habe, "heute solle hier Judenblut fließen". Einen sehr großen Anteil der Mordaktionen dieses Kommandos nahmen die antijüdischen Aktionen außerhalb Rigas, in anderen Städten und auf dem Lande ein. Diese Morde sind unter der Bezeichnung der Aktionen der "Blauen Busse" in Erinnerung von Zeugen geblieben. Das lettische Judentum außerhalb Rigas wurde bis Oktober 1941 bis auf ca. 15.000 Menschen ausgelöscht, die in den zwei Ghettos in Daugavpils und Liepaja interniert wurden. In der Regel erteilte KdS Rudolf Lange der lettischen Hilfspolizei in den Provinzstädten und -orten mit, dass die lokalen Juden zu internieren seien. In vielen Fällen jedoch agierte die lettische Ortspolizei in Zusammenarbeit mit dem lettischen Selbstschutz ohne deutsche Befehle und verhaftete die Juden (wie beispielsweise der selbsternannte Polizeichef in Jelgava, Martins Vagulans, auf eigene Initiative verfuhr). Lange gab seine telefonischen Anweisungen an das Arajs-Kommando, wonach diese in besagten blauen Bussen an die jeweiligen Orte zu fahren und die Opfer zu ermorden hatten. Der Abordnung von ca. 35-40 Arajs-Leuten wurden von den Gemeinden zumeist auch Übernachtungsmöglichkeiten gestellt. Die Opfer wurden in der Regel in den umliegenden Wäldern ermordet, wobei das Ausheben und Schließen der Massengräber von den Bauern der Umgebung erledigt werden musste. Diese Mordaktionen fanden im gesamten Land statt und erreichten ihren Höhepunkt im Herbst 1941. Bei einer Fahrt im September 1941 besuchte eine Abordnung des Arajs-Kommandos mehrere Orte in Ostlettland, zunächst Valmiera, im Anschluss daran Rezekne, wo die Einheit nach der dortigen Aktion geteilt wurde und in zwei Gruppen weiter nach Vilani und über Riga nach Ventspils in Westlettland fuhr. In jedem dieser Orte betrugen die Opferzahlen mehrere Hundert Menschen, und in der Regel bedeutete dies die Auslöschung des gesamten örtlichen Judentums, das heißt, das Kommando hinterließ den jeweiligen Ort nach nur wenigen Stunden seines Aufenthalts "judenfrei".
Die Opferzahl des Arajs-Kommandos in der Provinz kann vorsichtig auf ca. 9.000 Menschen geschätzt werden. Wie sah die innere Struktur dieses Mordkommandos aus? Welche Menschen verübten diese systematischen Verbrechen? Viktors Arajs selbst war als äußerst ehrgeiziger Mensch bekannt, dessen soziale Position deutlich unter seinen eigenen Erwartungen lag. Sein Hass auf die Juden und Kommunisten kann als Mischung aus Rassismus und opportunistischem Fanatismus gewertet werden. Seine überzeugende Ausstrahlung hatte starken Einfluss auf die Gewinnung von jungen und zumeist unerfahrenen Menschen für sein Kommando. Als er am 4. Juli 1941 in der antisemitischen Zeitung "Tevija" seinen Aufruf an alle nationalistisch, antikommunistisch und patriotisch gesinnten Personen zur Rekrutierung von Kommandomitgliedern veröffentlichte, erreichte er tatsächlich die gewünschte Zielgruppe: junge Männer, die zumeist aus der Provinz stammten und noch keine beruflichen Erfahrungen gesammelt hatten, aber durch den gegenwärtigen Eindruck der sowjetischen Terrormaßnahmen zu entsprechenden Racheaktionen bereit waren. Auch kriminelle und abenteuerlustige Elemente suchten Kontakt zu seinem Kommando. Die Einheit bot für Männer, die in Riga weder Arbeit, ein soziales Netzwerk noch eine Einkommensmöglichkeit hatten, Unterkunft, schnelle finanzielle Vorteile und vor allem eine Arbeitsroutine, die kriminelle Entgrenzungen ohne juristische Konsequenzen zuließ, ja sogar forderte. Dementsprechend negativ waren sowohl das Auftreten der Kommandomitglieder als auch deren Ruf bei der Rigaer Bevölkerung, die ihnen und ihren Etablissements aus dem Weg gingen und sie als die Arajs- Burschen oder -bande bezeichnete. Der Durchschnittslette sah sehr wohl, dass es sich bei diesem Mordkommando um eine Gruppierung handelte, die sich jenseits der ethischen und legalen Normen bewegte.
Insgesamt versuchten die nichtjüdischen Bewohner des Landes den antijüdischen Maßnahmen aus dem Wege zu gehen. Wenn sie dennoch unfreiwillige Zeugen der Verbrechen wurden, verdrängten sie das Erlebte und versuchten, ihren eigenen Alltag unter den Bedingungen der Besatzung so unauffällig wie möglich zu gestalten. Die Tageszeitungen zwischen 1941 und 1943 sind gefüllt von Meldungen, die auf einen normalen Alltag einer Bevölkerung unter den Bedingungen einer wirtschaftlich und politisch unangenehmen, jedoch keinesfalls terroristischen Besatzung schließen lassen. Man akzeptierte die Verbrechen an den Juden als Gegebenheit der nationalsozialistischen Besatzung größtenteils, wollte aber damit selbst nichts zu tun haben und verschloss die Augen. Die Komplizen und Handlanger der deutschen Sicherheitspolizei in der sogenannten Judenfrage waren der kleine aber effiziente Personenkreis des harten und selbst agierenden Kerns, des Arajs-Kommandos und der Peripherie der zahlenmäßig größeren lettischen Hilfspolizei, die sich bei der Durchführung der Morde als Helfer und Befehlsausführer beteiligte. In einem Aspekt Judenverfolgung hingegen erweiterte sich der beteiligte Personenkreis, sowohl auf Seiten der deutschen Besatzungsmacht, als auch bei der lettischen Bevölkerung immens: bei der Beraubung des Eigentums der jüdischen Opfer. Auf deutscher Seite lieferten sich Zivilverwaltung und Sicherheitspolizei erbitterte Grabenkämpfe um die Sicherstellung des jüdischen Eigentums. Jede Behörde beanspruchte die geraubten Werte für sich und versuchte, diese in die eigenen Taschen zu wirtschaften. Auf lettischer Seite erfolgten ähnliche Szenarien. Bei der Verhaftung von Juden griffen sowohl Leute des Arajs-Kommandos als auch der Hilfspolizei Wertgegenstände und Gelder ab, wo sie nur konnten. Die deutsche Sicherheitspolizei und die Zivilverwaltung tolerierten ein gewisses Maß an Raubfällen durch lettische Komplizen, behielt jedoch die Erfassung und Sicherstellung der tatsächlich wertvollen Objekte strikt für sich. Nachdem die Juden als soziale Gruppe stigmatisiert und entrechtet worden war, richteten sich die Interessen vieler Letten gleichsam instinktiv auf die zu erwartenden Vermögenswerte der Opfer. Diese Art an vorausschauendem Opportunismus, Pragmatismus bis hin zur entgrenzten Gier lässt sich in jeder sozialen Krise, bei politischen Umstürzen oder Kriegen gleichermaßen beobachten. Das Motiv der Bereicherung machte weit mehr Letten zu Tatbeteiligten und Mitwissern bei der Judenverfolgung als es bei der Terrorisierung und Ermordung der Menschen der Fall war. Viele dieser plündernden Letten hatten keine antisemitischen Motivationen. Es gibt in überlieferten Dokumenten jedoch Hinweise darauf, dass Beteiligung an antijüdischen Aktionen bei Anträgen zum Erwerb von Gegenständen aus ehemals jüdischem Besitz als erfolgversprechender Aspekt eingesetzt wurde. So bewarb sich der Rigaer Hafenschutzmann Peteris Leikarts am 30. April 1942 bei der deutschen Treuhandverwaltung für den verbilligten Kauf von Küchengegenständen aus dem Ghetto mit folgenden Worten: "Ueber mich kann ich folgendes berichten. Ich (...) bin verheiratet, stehe im Dienst der Hafenpolizei seit dem 1. Juli 1941 und habe mich an der Judenaktion beteiligt." Damit kann die aktive Beteiligung an den Massakern zur Liquidierung des Rigaer Ghettos gemeint sein, bei der nachweislich auch die Hafenpolizei zur Bewachung der vielen Menschen zum Einsatz kam. Viele Letten verschafften sich auch illegale Papiere, um im Ghetto zu plündern bzw. Einkäufe zu tätigen. Die Anträge auf entsprechende Passierscheine, die Letten bei der Zivilverwaltung einreichten, füllen ganze Aktenbände. Nach der Ermordung der lettischen Juden und vor der vollständigen Besiedlung des Ghettos mit deportierten Juden befand sich dort jede Menge sogenanntes "herrenloses Eigentum". Die deutsche Besatzungsverwaltung hingegen wollte ein Mindestmaß an Kontrolle und Übersicht in dem Enteignungsprozess behalten und bestrafte illegale Plünderung größeren Ausmaßes mit drastischen Mitteln. So wurden im August 1941 Angehörige des lettischen Selbstschutzes in Karsava aus dem Dienst abgeschoben, da sie sich am Eigentum der ermordeten Juden vergriffen hatten. Wenn Letten die Möglichkeiten hatten, Zugriff zu geraubtem jüdischen Eigentum zu erlangen, handelte es sich in der Regel um wenig wertvolle Gegenstände. Bei größeren Vermögenswerten, ausländischer Währung, Immobilien etc. ließ sich die deutsche Besatzungsverwaltung das Heft nicht aus der Hand nehmen. Es wurde auf keinen Fall zugelassen, dass lettische Eigeninitiative in dieser Frage die Einnahmen der deutschen Verwaltung minderte und der Besatzungsalltag gestört wurde. Insgesamt ist auffällig, dass sich auch Letten, die durchaus kein Interesse am Schicksal der verfolgten Juden zeigten und sich aus dem Ereignissen der Verfolgung heraushielten, ein aktives Verhalten entwickelten, um sich an den Objekten der Beraubung zu bereichern. In den kleineren Ortschaften wurde die weniger wertvolle Habe der ermordeten Juden an die Ortsbewohner zu niedrigen Preisen versteigert. Die regelmäßigen Kaufs- und Tauschgänge von vielen Bewohnern der Städte, die über Ghettos verfügten, in diese jüdischen Wohnbezirke zeugt von einer gezielten Ausnutzung der Lage der Enteigneten und von einem gewissen Einverständnis mit deren Schicksal. Viele Letten nutzten auch den sozialen Rechts- und Privilegienentzug der Juden vor der Ghettoisierungsphase finanziell aus. So entstand aus der Notlage der Juden, sich auf dem Territorium des Rigaer Ghettos innerhalb kürzester Zeit eine Bleibe suchen zu müssen, ein Schwarzmarkt mit hohen Wucherpreisen. Auch dringende Arztbesuche und ähnliche Notfälle konnten Juden jetzt hohe Preise kosten, abgesehen von dem kostspieligen Privileg, beim Untertauchen von ehemaligen Bekannten nicht denunziert zu werden. Habgier war in den meisten Fällen das Hauptmotiv. In den meisten dieser Fälle handelte es sich um typisch menschliches Verhalten in der Extremsituation einer politischen Instabilität. Antisemitische Hintergründe können zwar nicht ausgeschlossen werden, bildeten jedoch nicht die alleinige Grundlage dieses kollektiven Verhaltens.
Allerdings gab es durchaus Letten, die die Verfolgung der Juden nicht nur ablehnten, sondern auch aus den verschiedensten Gründen und unter den unterschiedlichsten Umständen zu handeln bereit waren, um Solidarität und Hilfe zu leisten. Die Gruppe dieser Personen war zwar prozentual eher klein, jedoch hatte die Handlungsweise weitreichende Folgen. Nicht wenige Aufzeichnungen Überlebender zeugen von den abenteuerlichen und hoch riskanten Aktionen ihrer Retter. Jemand, der sich ernsthaft zu dem Schritt entschloss, einem oder mehreren Juden in ihrer Notlage zu helfen, betrat sehr gefährliches Terrain: das Verstecken von Juden wurde mit der Todesstrafe geahndet. Selbstverständlich war die Zahl der Letten, die durch Gesten, das Zustecken von Lebensmitteln oder einfach Freundlichkeit ihre Solidarität mit den Juden äußerten, weit höher und wurde kaum dokumentiert. Jeder Bericht Überlebender reflektiert jedoch eine Reihe von Gesten, die in der Kompliziertheit des Ghetto- oder Zwangsarbeitsalltags dennoch eine weitreichendere Bedeutung erlangten. Diese Fälle verdeutlichen, dass die lettische Gesellschaft, wie jede andere soziale Gemeinschaft, nicht als monolithischer Block funktionierte, weder in der Zustimmung und Mitwirkung bei der Judenverfolgung, noch in ihrer Gleichgültigkeit oder Ablehnung angesichts dieses Verbrechens.
Das jüdische Dokumentationszentrum "Juden in Lettland" verfügt über eine Kartei mit über 200 Fällen von Hilfeleistungen und Solidarität für verfolgte Juden. In 52 Fällen wurden die Helfenden verhaftet, in 14 Fällen mussten die Helfenden ihre Solidarität mit dem Leben bezahlen. Der bekannteste Fall der Rettung von Juden war das hochorganisierte Netzwerk des Rigaer Hafenarbeiters Zanis Lipke, der in einer jahrelangen waghalsigen Aktion 56 verfolgten Juden das Leben rettete. Aus den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln baute er ein weitverzweigtes Netz von vertrauenswürdigen Personen auf, mit deren Hilfe er längerfristige Unterkunft und Verpflegung für die Verfolgten organisieren konnte. Er und seine Männer schreckten auch nicht davor zurück, sich Judensterne an die Kleidung zu heften, ins Ghetto einzudringen und auf diese Weise Juden die Flucht aus dem Ghetto zu ermöglichen. Es versteht sich von selbst, wie hoch die Gefahr der Denunziation bei einer solch hohen Zahl der involvierten Mitwisser war und welche Umstände umgangen werden mussten, um unter den Bedingungen eines strikten Lebensmittelkartensystems die Verpflegung so vieler Personen zu ermöglichen. Im Jahr 1977 wurde Lipke in Jerusalem mit der "Medaille der Gerechten" für seine selbstlosen Taten gewürdigt. Andere Helfer hatten weniger Glück. Alma Pole, die im Keller ihres Hauses in der Rigaer Altstadt sieben Juden verbarg, wurde entdeckt. Alle Beteiligten wurden von der Sicherheitspolizei erschossen. Der Rigaer Historiker Margers Vestermanis kam zu dem Schluss, dass es sich bei den Letten, die Juden Hilfe erwiesen, zumeist um Vertreter aus der Arbeiterschaft, um Kleinbauern oder demokratisch gesinnte Intelligenzler handelte. Die Motive, Mitgefühl in riskantes Handeln umschlagen zu lassen, waren jedoch in jedem Fall individuell verschieden gelagert.
Wie lassen sich die drei Verhaltensweisen von verschiedenen Gruppen der lettischen Gesellschaft angesichts des Holocaust charakterisieren? Der Einmarsch der deutschen Streitkräfte und die sofortige Verfolgung der Juden wurden zwar kollektiv wahrgenommen, dennoch gab es divergierende Reaktionen. Diese konnten so extrem unterschiedlich sein, dass sie von aktiver Unterstützung bis hin zur Initiativhandlung im Mordgeschehen selbst wie auch zum Widerstandsverhalten und der aktiven Hilfeleistung für die verfolgten Menschen reichte. Beide Personenkreise, die zu einer solch eindeutig zustimmenden oder ablehnenden Reaktion neigten, waren eher klein. Sowohl aktive Kollaborateure als auch Judenretter waren zahlenmäßig vergleichsweise nur wenige Personen, wobei jedoch das lautstarke und gewalttätige Auftreten der Täter und Mittäter in der Verfolgung eine entsprechende Langzeitwirkung hatte. Die größte Gruppe, die am ehesten den Querschnitt der lettischen Gesellschaft repräsentierte, waren die passiven Beobachter, die versuchten, sich aus dem Geschehen möglichst herauszuhalten und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies führte allerdings in nicht wenigen Fällen zu Interventionen, um sich am Eigentum der verfolgten Juden zu bereichern und die Lage dieser Menschen auszunutzen. Als Gründe für diese Handlungsweise können in den meisten Fällen Opportunismus und nüchterner Pragmatismus geltend gemacht werden. Die zwei anderen Reaktionsoptionen - den freiwilligen Eintritt in die Reihen der Mörder oder zumindest der Täter bzw. die Entscheidung, sein Leben für die Rettung Verfolgter zu riskieren, folgen jeweils eigenen Mechanismen. Ein auch nur flüchtiger Einblick in die soziale Struktur des Kommandos unter der Führung von Viktors Arajs erlaubt die unzweifelhafte Schlussfolgerung, dass es sich bei den meisten Tätern, insbesondere in den Anfangsmonaten der Tätigkeit der Einheit, um junge, sozial ungefestigte, ungebundene und in den meisten Fällen äußerst gewaltbereite Männer handelte. Es kann behauptet werden, dass der in diesem Kommando herrschende Antisemitismus eine stark gewalttätige Komponente aufwies und viele der Mitglieder ihre antijüdischen Feindbilder erst in Berührung mit der Gruppe und den ersten Aktionen gegen die Opfer ausformten und in erster Linie als Reaktion auf die sowjetischen Terrormaßnahmen in Lettland auf Gewalt aus waren, die lediglich an ein entsprechendes antijüdisches Feindbild gekoppelt werden musste.
Jedoch kann hier kein kollektives Gesamt- oder Pauschalbild entworfen werden. Es gab einen gefestigten antisemitischen und stark auf die Leitfigur Viktors Arajs ausgerichteten Kern, der die innere Dynamik und Struktur der Gruppe bestimmte. Im Sinn der Gruppendynamik des Modells Christopher Brownings haben auch diese Männer in ihrem eigenen gewaltbereiten und gleichsam rechtsfreien Raum agiert, richteten sich nach eigenen internen Verhaltensregeln, Codierungen und Kommunikationsformen. Ihr zumeist kollektives Auftreten in der lettischen Öffentlichkeit rief dementsprechend in der Regel Abneigung und Entfremden hervor; der Durchschnittslette ging ihnen aus dem Weg. Der Durchschnittslette versuchte insgesamt, all den unangenehmen Begleiterscheinungen des deutschen Besatzungsalltags aus dem Weg zu gehen. Wie in jeder Gesellschaft schauten die meisten Beobachtenden der Verbrechen und Ungerechtigkeiten weg und ignorierten die Geschehnisse, um sich selbst zu schützen und einen gewissen Grad an Normalität zu wahren. Anders waren die Fälle der Hilfeleistungen für Juden gelagert. Hier agierten die betreffenden Personen zumeist unter extrem konspirativen Umständen und bemühten sich demnach - im Gegensatz zu der lärmenden und auffälligen Horde der Kollaborateure - um strikte Geheimhaltung und Unauffälligkeit. Somit wurden sie von der breiten Masse und - wenn sie Glück hatten - auch von der Sicherheitspolizei kaum wahrgenommen.
Die Aktenlage sowie Zeugenaussagen verdeutlichen insgesamt, dass es sich bei den Reaktionen vieler Letten um ein Gesamtbild handelte, das eine durchschnittliche Gesellschaft unter den Bedingungen von Okkupation, Kriegshandlung und erfahrenem Terror zeigt. Das Ergebnis der Dokumentenauswertung zeigt, dass es sich bei den Kollaborateuren um einen relativ geringen Teil aktiver Unterstützer handelte, während das überwiegende Gros der Letten zu einer selbstschützenden Gleichgültigkeit neigte. Es ist nicht Aufgabe des Historikers, dies moralisch zu bewerten. Ähnlich gestaltete sich die Rolle der sogenannten Handlanger, der großen Gruppe der Hilfspolizei, deren Motive und Ausmaß der Tatbeteiligung selbst in jedem Fall unterschiedlich gelagert waren. In den meisten Fällen ist eine eindeutige Bestimmung der Involvierung in das Verbrechen gegen die Juden aufgrund fehlender Dokumentation nicht möglich. Es müsste in jedem Fall der lettischen Schutzmannschaftsangehörigen oder der Hilfspolizei geprüft werden, unter welchen Bedingungen welche Befehle auf welche Weise ausgeführt wurden. Und ob diese Befehle Beihilfe zum Mord, Mord selbst oder die Unterstützung der Rahmenbedingungen des Verbrechenssystems waren. Es ist verständlich, dass aufgrund der Quantität der Fälle und der fehlenden individuellen Dokumente eine solche Arbeit von keinem Historiker geleistet werden kann. Ohne jedoch den Tatsachen zu widersprechen kann in vielen Fällen befehlsgebundener Hilfstätigkeit der lettischen Hilfspolizei von Beihilfe zum Mord ausgegangen werden. Noch problematischer zeigt sich die Bestimmung des Verhaltens der lettischen landeseigenen Verwaltung in der Frage der Judenverfolgung. Von lettischer Seite wurde das Agieren dieser Behörde zumeist in das Licht des passiven Widerstands im Sinn einer Einflussnahme auf die deutsche Besatzungspolitik gerückt. Wie fließend dabei die Grenzen sind und nachhaltig Alibis für Tatbeteiligungen geschaffen wurden, dürfte auch für den Nichthistoriker deutlich sein.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei der Reaktion der verschiedenen Bevölkerungsteile des NS-okkupierten Lettland um ein mehr oder minder plausibles Verhaltensspektrum unter den Bedingungen einer Besatzung handelte: es gab eine nicht allzu große Gruppe von aktiven Tätern und Mittätern in der Durchführung des Holocaust, deren extrem gewaltsames und kriminelles Auftreten bleibende Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben und in diesem ein Gesamtbild des lettischen kollaborierenden Prototyps geschaffen haben. Demgegenüber standen die im illegalen Untergrund und an der Peripherie wirkenden Helfer der verfolgten Juden, ebenfalls eine zahlenmäßig nicht sehr große Gruppe. Der größte Teil der lettischen Gesellschaft nahm die an den Juden ihres Landes begangenen Verbrechen gleichsam als notwendiges Übel der NS-Besatzung hin, die ihn immerhin vom sowjetischen Terror befreit hatte. Das Leid der Juden lag jenseits des Erfahrungshorizonts und Verständniswillens der meisten Letten und sie verdrängten es bzw. es war ihnen tatsächlich gleichgültig. Diese Konzentration des Blickwinkels auf strikt eigene Belange ist eine Konstellation, die in jeder beliebigen Gesellschaft unter ähnlichen historischen oder gegenwärtigen Extremumständen wie Krieg, Terror oder anderweitige Unterdrückung auftreten kann. Die hier demonstrierten Besonderheiten lassen sich in der Einbettung der Motive für dieses Verhalten in den Kontext der Landesgeschichte und der kollektiven historischen Erfahrungen der Letten finden. Dies war in erster Linie die kurz vor dem deutschen Einmarsch erfahrene sowjetische Okkupation und deren Terror gegen die Bevölkerung Lettlands, die eine mentale Ausnahmesituation schuf. Vor diesem Kontext bleibt es Aufgabe zukünftiger historischer Forschungsarbeit, die jenseits davon in der lettischen Geschichte verwurzelten Paradigmen des lettischen Antisemitismus zu bestimmen. Es wäre wünschenswert, dass die Anstöße zu dieser Forschungsleistung von lettischen Historikern selbst in Reflexion auf ihre Landesgeschichtsschreibung geleistet werden würden.
Wir bedanken uns bei der Autorin für die Möglichkeit zur Zweitveröffentlichung des Textes. Quelle: http://www.volksbund.de/partner/deutsches-riga-komitee/lettland-unter-deutscher-besatzung-1941-1944.html , zuletzt überprüft am 19.6.2017