Die Suche nach den Gründen für antiziganistische Ressentiments und die Entwicklung von Gegenmaßnahmen sind vielschichtig und komplex. Erinnerungskulturelle Debatten und wissenschaftlichen Studien haben sich im Kontext der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Oktober 2012 vermehrt dem Thema Antiziganismus angenommen. Dabei ist immer wieder deutlich geworden, dass es, um das Phänomen in seiner Gesamtheit wissenschaftlich zu erfassen und inhaltlich zu definieren, eines interdisziplinären Zugangs bedarf. Ein 2016 veröffentlichter Sammelband trägt diesem Bekenntnis zur interdisziplinären Herangehensweise Rechnung und zeichnet in insgesamt 14 thematischen Beiträgen ein ausgesprochen lebendiges, heterogenes und multiperspektivisch geprägtes Bild vom aktuellen Zustand der Antiziganismusforschung.
Der Sammelband ist in drei Abschnitte gegliedert. Beleuchtet der erste Abschnitt gesellschaftstheoretische Aspekte der Antiziganismusforschung und bildet so die wissenschaftliche Grundlage, so werden im zweiten Abschnitt in einzelnen Fallbeispielen die Ausprägungen von und der Umgang mit Antiziganismus in der Gesellschaft untersucht. Die Beiträge des dritten Teils unterziehen den Bereich der sozialen Arbeit einer kritischen Bestandsaufnahme und untersuchen sowohl, in wie weit antiziganistische Ressentiments in der alltäglichen Arbeit verwurzelt sind, als auch, wie und wo Antiziganismus im bildungspolitischen Bereich thematisiert wird.
In seinem einleitenden Beitrag zeichnet Wolfram Stender die Entwicklungen und Wandlungen von antiziganistischen Ressentiments in Europa und speziell in Deutschland bzw. den beiden deutschen Staaten seit 1945 nach. Vom postnazistischen Rassismus sei man über eine Klischees reproduzierende, linksalternative Verklärung aktuell in einer Situation angelangt, in der die offizielle Anerkennung und das Gedenken an die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma und der Rassismus gegenüber aktuell migrierenden Roma ambivalent nebeneinander stehen.
Speziell der Perspektive von gesellschaftlichen Stigmatisierungen ausgesetzten Personen widmet sich der Beitrag von Elizabeta Jonuz im zweiten Abschnitt des Sammelbandes. Ausgehend von der rassismuskritischen Ethnizitätsforschung untersucht sie, wie nach Deutschland zugewanderte Roma mit Ethnisierungsprozessen umgehen. Als empirische Grundlage dienen ihr dabei Interviews, die sie mit migrantischen Roma führte. Anhand von drei Biografien, die alle Generationen seit der Gastarbeiteranwerbung der 1960er Jahren umfassen, untersucht sie die Frage, ob die Antworten für die gesellschaftliche Marginalisierung von Roma „bei den Roma selbst oder in der Mehrheitsgesellschaft zu suchen“ (S. 153) sind.
Aus der Analyse der biografischen Interviews geht für die Autorin hervor, dass der Begriff „Zigeuner“ von allen interviewten Personen als diskriminierend empfunden wurde – es darüber hinaus aber sowohl zwischen den einzelnen Generationen als auch innerhalb einer Generation „durchaus verschiedene Strategien im Umgang mit Ethnisierungs- und Marginalisierungsprozessen“ (S. 183) gebe. Daher kommt Jonuz zu dem Schluss, dass „Ethnie“ bei der sozialwissenschaftlichen Erforschung von gesellschaftlicher Ungleichheit keine sinnvolle Kategorie darstellt. Stattdessen sieht sie die Gründe für die Marginalisierung von Roma in den „Mechanismen der Aufnahmegesellschaft“ (S. 183). Den Schlüssel für eine größere Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen sieht sie daher in einem von sozialer Herkunft unabhängigen Zugang zu Bildungschancen.
Coleen Schreiber beleuchtet am Beispiel der regionalen Tageszeitung „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ (HAZ) , wie die mediale Berichterstattung im Hinblick auf eine sogenannte „Armutszuwanderung“ immer wieder auf antiziganistische Stereotype zurückgreift und gesellschaftliche Ressentiments bedient. Anhand von einzelnen Passagen aus insgesamt vier Artikeln der HAZ weist die Autorin nach, dass an Sinti und Roma wiederkehrend der Vorwurf der Integrationsunfähigkeit und erhöhten Kriminalität gerichtet wird. Gleichzeitig werde ihnen eine ärmliche Lebenssituation, schlechte Bildung und die Missachtung von „,Grundregeln des Zusammenlebens‘“ (S. 220) zugeschrieben.
Neben den inhaltlichen Vorwürfen an Sinti und Roma sieht Schreiber auch in der Art und Weise, wie derartige Vorwürfe in der Berichterstattung begründet werden, wiederkehrende Elemente. Sie macht dabei eine unreflektierte, oftmals kaum faktenbasierte und mit stigmatisierenden Bezeichnungen operierende Argumentation der Journalist_innen aus. So kritisiert sie, dass Zitate von Polizist_innen und Richter_innen – ohne sie kritisch zu hinterfragen oder einzuordnen – in die Berichterstattung übernommen und beispielsweise Daten aus Statistiken nicht in einen Gesamtzusammenhang gesetzt würden. In ihrem Fazit plädiert Schreiber daher für eine „reflektierte und vorurteilsbewusste Berichterstattung“ (S. 222) und hebt die wichtige Rolle der Medien und der Journalist_innen in der Demokratie hervor.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit theoretischen Grundlagen von antiziganismuskritischer Bildung, der Bildungssituation deutscher Sinti in Niedersachsen oder mit der Gleichsetzung von Roma und Armutszuwanderung. Sehr zu empfehlen sind zudem die Einblicke in die Praxis der sozialen Arbeit, welche die Beiträge im letzten Abschnitt des Sammelbandes bieten. So liefert ein „Wohnzimmergespräch“ einer Arbeitsgruppe des Hannoveraner Arbeitskreises Kritische Soziale Arbeit nicht nur eine Reihe von konkreten Beispielen von antiziganistischen Ressentiments in der Berufspraxis, sondern zeigt darüber hinaus anhand von zwei schriftlichen Stellungnahmen, wie Sozialarbeiter_innen politisch für einen Abbau von Antiziganismus eintreten können.
Der Sammelband verknüpft theoretische Grundlagen zum Thema Antiziganismus mit aktueller empirischer Forschung und Einblicken in und Vorschlägen zur Berufspraxis von sozialer Arbeit. Die interdisziplinäre Herangehensweise und Multiperspektivität, mit der unterschiedliche inhaltliche Aspekte angegangen werden, ist die große Stärke des Sammelbandes. Die umfassende thematische Bandbreite macht ihn darüber hinaus für eine breite Leserschaft interessant.
Wolfram Stender (Hg.): Konstellationen des Antiziganismus. Theoretische Grundlagen, empirische Forschung und Vorschläge für die Praxis, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2016, 39,99 Euro.
Der Sammelband ist auf der Website des Verlags auch als E-Book für 29,99 Euro erhältlich.