Bei der Auseinandersetzung mit massiven Menschenrechtsverbrechen wie dem „Großen Terror“ in der Sowjetunion ist das Risiko immanent, von der Anzahl der Opfer förmlich „erschlagen“ zu werden. Einzelschicksale gehen bei einer oberflächlichen Betrachtung in der Menge der betroffenen Personen oftmals unter. Im Falle des stalinistischen Massenterrors kommt hinzu, dass die Erinnerung an die 1937 und 1938 ermordeten Opfer in der Sowjetunion jahrzehntelang weitestgehend ein Tabu darstellte und die politische Elite der UdSSR auf Bewegungen, die den „Großen Terror“ thematisieren wollten, mit repressiven Maßnahmen reagierte. Erst in den 1990er Jahren und mit der Öffnung einiger Archive begann daher zunehmend eine historische Aufarbeitung - und damit auch die Erforschung der deutschen Opfer.
Speziell diesen Opfern einen Namen – und somit „das Mindeste ihrer Ehre“ (S. 8) – zurückzugeben, ist das Anliegen einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Publikation. Ulla Plener und Natalia Mussienko widmen sich hier den dem „Großen Terror“ zum Opfer gefallenen deutschen Exilanten und setzen den Schwerpunkt dabei explizit auf die Erinnerung an die Einzelschicksale.
Den Kern des Buches bildet eine alphabetisch geordnete Namensliste, die in fünf Bereiche unterteilt ist. In dem mit Abstand größten Block führen die Herausgeberinnen die Namen der erschossenen Personen auf, welche aus Deutschland stammten oder „mit Deutschland verbunden“ (S. 5) waren. Hier werden also neben deutschen Staatsangehörigen auch Opfer genannt, die nicht deutscher Nationalität waren – sofern sie ursprünglich aus Deutschland stammten und beispielsweise als Mitglieder der KPD zu Deutschland eine enge Beziehung aufwiesen. Der zweite Bereich legt dagegen den Fokus speziell auf die erschossenen deutschen Staatsangehörigen, die weder in Deutschland noch in Russland geboren worden waren. Ergänzt wird die Liste durch die Namen der Personen, die in Arbeitslagern oder Gefängnissen verstarben oder in das nationalsozialistische Deutschland ausgewiesen und somit zumeist in den Tod geschickt wurden. Den Abschluss der insgesamt 567 Namen umfassenden Liste bildet die Aufzählung der Namen von antifaschistischen Seeleuten und Hafenarbeitern aus Deutschland, welche dem „Großen Terror“ zum Opfer fielen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit der genannten Opfer erheben die Herausgeberinnen nicht.
Als Grundlage für die Recherche nach den Namen geben Plener und Mussienko vor allem die durch die Tageszeitung „Neues Deutschland“ zwischen Juni 1993 und Januar 2005 veröffentlichen Namenslisten deutscher Opfer an. Diesen Namen fügen die Herausgeberinnen weitere hinzu, teils basierend auf eigener Recherche in Archiven oder in Medien, teils durch Unterstützung von Gedenkstätten oder beispielsweise anhand von Veröffentlichungen der von der Stadt Moskau und des Moskauer Gebiets eingerichteten Rehabilitierungskommission.
Den einzelnen Namen sind – soweit bekannt – stichpunktartig zentrale Information über den Lebenslauf und das Schicksal der jeweiligen Person beigefügt. Man erfährt so beispielsweise in vielen Fällen u.a. die familiäre Herkunft, den Bildungsgrad, eine mögliche Parteimitgliedschaft oder den jeweiligen Zeitpunkt, Ort und offiziellen Grund der Verhaftung und Ermordung.
Eingerahmt wird die Namensliste durch einige kurze Vorbemerkungen zur Entstehung der Publikation sowie von zwei Gedichten der beiden deutschen Schriftsteller Bertolt Brecht und Johannes R. Becher. Vier Abbildungen von Dokumenten oder Ortsskizzen wie beispielsweise einem Schreiben des Chefs des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) oder dem Grundriss der Hinrichtungsstätte in Butovo sorgen für eine – allerdings sehr knapp bemessene – Illustration der im Text aufgeführten Informationen.
Besonders lesenswert ist das ausführliche Nachwort von Ulla Plener. Ihr gelingt es, die in der Namensliste genannten Informationen historisch einzuordnen und anhand von einzelnen Beispielen den fiktiven und absurden Charakter der Anklagen und Vorwürfe zu verdeutlichen. Plener arbeitet auf anschauliche Art und Weise die komplexen Gründe und Folgen des „Großen Terrors“ heraus und sieht hierbei vor allem den „menschenverachtende[n], antiemanzipatorische[n] und gerade deshalb antisozialistische[n] Umgang mit der Persönlichkeit“ (S. 162) als Grundlage des stalinistischen Massenterrors. Bei der Analyse der Rehabilitation der Opfer zieht Plener einen Vergleich zur Zeit nach dem Ende der Sowjetunion und hebt hervor, dass das „angeblich demokratische Russland […] die Rehabilitationspraxis in der alten menschenverachtenden Weise“ (S. 166) fortsetze.
Klar benanntes Ziel der Publikation ist es, durch die Aufzählung der Namen an die deutschen Opfer im „Großen Terror“ zu erinnern. Dadurch, dass jedoch nicht nur die Namen, sondern auch zentrale Informationen zum jeweiligen Lebenslauf und den Hintergründen der Ermordung gegeben werden, ermöglichen die Herausgeberinnen den Leser_innen einen zumindest oberflächlichen Eindruck, wer die ermordete Person war und wie sie gelebt hat. Das Nachwort liefert nicht nur einen detaillierteren Blick auf einige ausgewählte Beispiele, sondern fügt der Publikation mit der Dekonstruktion der den Opfern vorgeworfenen Anklagepunkte eine weitere Komponente hinzu. Die Publikation ist also vor allem den Leser_innen zu empfehlen, die auf der Suche nach Beispielen sind, um den Fokus auf die (deutschen) Opfer des „Großen Terrors“ zu richten.
„Plener, Ulla; Mussienko, Natalia: Verurteilt zur Höchststrafe: Tod durch Erschießen. Todesopfer aus Deutschland und deutscher Nationalität im Großen Terror in der Sowjetunion 1937/38, Karl Dietz Verlag, Berlin 2006.“ steht kostenfrei im Publikations-Archiv der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Download zur Verfügung.