Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Bei den Mordaktionen der Nationalsozialisten_innen inner- und außerhalb der Konzentrations- und Vernichtungslager handelte es sich meist um koordinierte Vorgänge, deren Ablauf von den Täter_innen präzise geplant und durchgeführt wurde. Zu dem bürokratisierten Morden gehörte dabei auch, die eigenen Taten – meist für den internen Gebrauch – zu dokumentieren. Dies erfolgte in endlosen Registern, Karteien und (Lage-) Berichten, immer wieder jedoch auch durch Fotografien, die von den Täter_innen an den Orten ihrer Taten aufgenommen wurden und die dazu dienen sollten, die eigenen „Erfolge“ festzuhalten und zu belegen. So dokumentierte der in Warschau zur Niederschlagung des Ghetto-Aufstands eingesetzte SS-Führer Jürgen Stroop anhand eines Foto-Albums mit dem Titel „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!“ den Ablauf der Ghettoräumung. Eines der darin enthaltenen Fotos, auf dem ein kleiner Junge zu sehen ist, der mit erhobenen Armen das Ghetto verlässt, findet sich heute in zahllosen Publikationen und Ausstellungen wieder und ist damit wichtiger Bestandteil einer über die Jahrzehnte entstandenen Ikonografie des Holocausts.
Doch neben der Dokumentation der eigenen Taten hatten die Fotografien oft auch einen anderen Zweck. Sie sollten – ähnlich der Funktion eines Familien-Albums – als persönliche Erinnerungen an eine Zeit dienen, die viele der Täter_innen eben nicht als „bedrückend“ oder „falsch“ erlebten und erinnerten. So fand man bei der Verhaftung des ehemaligen stellvertretenden Lagerkommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, in dem zwischen 1942 und 1943 mehr als eine Million Menschen ermordet wurden, Kurt Franz, Ende der 1950er-Jahre ein Album, das unter anderem Aufnahmen aus seiner Dienstzeit im Vernichtungslager zeigt und mit der Überschrift „Schöne Zeiten“ versehen wurde.
Die Dokumentationswut der Nationalsozialisten, deren Früchte sich in einem unüberschaubaren und durchbürokratisierten System aus Behörden und Verwaltungsabläufen zeigten, wurde abgelöst von dem ebenso ambitioniert betriebenen Versuch, jegliche Spuren der eigenen Taten zu beseitigen. Die Vernichtungslager in Ostpolen – Belzec, Sobibor und Treblinka – wurden schon 1943 geschlossen und im Anschluss daran von jeglichen Hinweisen auf ihre frühere Nutzung befreit. In Berlin, der Zentrale der nationalsozialistischen Macht, bemühten sich die untergehenden Herrscher noch bis unmittelbar vor dem Eintreffen alliierter Truppen darum, Beweismaterial zu vernichten. Dennoch tauchten in den vergangenen Jahrzehnten und tauchen bis heute immer wieder Schriftstücke und Fotografien auf, die die Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten aus der Perspektive der Täter_innen darstellen. Der Umgang mit diesen Dokumenten ist heikel – nicht nur in der Bildungsarbeit. Eine durchdachte und ausführliche Kontextualisierung kann jedoch auch in der Arbeit mit Jugendlichen sinnvolle Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust im Allgemeinen und mit Täterschaft im Besonderen bieten.
Dass „Täterschaft“ in der Tat und von den Täter_innen selbst nicht unbedingt als diese rezipiert wird, illustriert ein Dokument, das erst vor wenigen Jahren in die Hände des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) gelangte. Ein Nachrichtenoffizier der US-Army hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs in einer verlassenen Wohnung in Frankfurt am Main ein Fotoalbum gefunden, es mit nach Hause genommen und mehr als sechzig Jahre bei sich aufbewahrt. Erst 2006 gab der Mann, inzwischen hochbetagt, die Aufnahmen an das Archiv des USHMM. Dort stellte sich heraus, dass es sich um ein privates Fotoalbum von Karl Höcker handelt, der als Adjutant des letzten Lagerkommandanten Richard Baer in Auschwitz Dienst tat. Darin enthalten sind 116 Fotografien, entstanden im Sommer 1944, die den Alltag im Lager sowohl aus dienstlicher als auch aus privater Perspektive beleuchten. Eine jüngst von Christophe Busch, Stefan Hördler und Robert Jan van Pelt herausgegebene Publikation setzt sich nun akribisch mit den Fotografien selbst, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer historiografischen Kontextualisierung auseinander.
Betrachtet man die Bilder aus dem Höcker-Album, wirken besonders jene Aufnahmen verstörend, die die Täter und Täterinnen in ihrer Freizeit zeigen. Jene Frauen und Männer, die zur selben Zeit den hunderttausendfachen Mord an den ungarischen Juden und Jüdinnen begingen, sieht man hier bei einem Ausflug „zur Solahütte“ in unbeschwerter Atmosphäre herumalbern und Blaubeeren essen. Die Bilder, die ohne eine entsprechende Kontextualisierung ebenso gut eine beliebige Gruppe an irgendeinem Ort und zu irgendeiner Zeit zeigen könnten, bringen die Täter_innen und damit auch ihre Taten näher an uns heran. Auschwitz – Synonym für Mord, Sadismus und Entgrenzung – wird dadurch zu einem Ort, an dem Menschen vermeintlich „normale“ Dinge taten. Das Lager, das in geschichtswissenschaftlichen Narrativen als von allen moralischen und zivilgesellschaftlichen Grundsätzen befreiter Raum dargestellt wird, erscheint hier als Ort der Freude und der Gemeinschaftsgefühle. Eine Auseinandersetzung damit sowie mit den Gefühlen, die bei der Betrachtung der Aufnahmen unweigerlich aufkommen, ist nicht einfach. In dem Band bemühen sich die Herausgeber deshalb um eine differenzierte und multiperspektivische Kontextualisierung des Albums. Quasi als Gegenstück und ständiger Spiegelpunkt dient den verschiedenen Autoren dabei das sogenannte „Auschwitz-Album“, das von der ungarischen Jüdin Lilli Jacob unmittelbar nach ihrer Befreiung im Konzentrationslager Mittelbau-Dora gefunden wurde und das die Ankunft ihres Deportationstransportes aus Ungarn in Auschwitz-Birkenau zeigt. Bei den Aufnahmen, die zur selben Zeit wie jene aus dem Höcker-Album gemacht wurden, handelt es sich um die einzigen Fotografien, die den gesamten Ablauf im Vernichtungslager Birkenau – von der Ankunft des Transportes bis zur Selektion – wiedergeben.
Man sieht also auf der einen Seite Menschen, die sich in ihrer Freizeit gemeinsam zu einem Ausflug aufmachen und – gut genährt und bei herrlichem Wetter – in Liegestühlen entspannen. Auf der anderen Seite sieht man dieselben Menschen, wie sie sich bereitwillig in den Dienst einer Mordmaschinerie stellen und über Leben und Tod tausender verängstigter Menschen mit einem Fingerzeig entscheiden. Die Klammer zwischen den beiden Seiten bildet die sowohl hier als auch da wahrnehmbare Kameradschaft unter den Angehörigen der SS, die schnell – das wird an den Fotos des „Auschwitz-Albums“ deutlich – zur Komplizenschaft wird und die das Bewusstsein jeder individuellen Verantwortung auszuschalten vermag.
In der Publikation nähern sich die Autor_innen aus verschiedenen Perspektiven den Aufnahmen des Höcker-Albums. Neben zwei einführenden Texten, die das Album in seinen historiografischen Zusammenhang einordnen und dabei sowohl auf seine Entstehungs- als auch auf die Rezeptionsgeschichte eingehen, widmet sich ein Beitrag zunächst der Biografie von Karl Höcker, der im Mai 1944 mit dem Beginn der Ungarn-Aktion nach Auschwitz kam. Anschließend daran geben vier weitere Beiträge einen Einblick in den Erfahrungszusammenhang von Auschwitz. Dazu zählt neben einem Text, der die „verkommene Welt“ von Auschwitz und Birkenau rekonstruiert, auch ein Beitrag, der sich mit den SS-Täternetzwerken und der Personalpolitik im Lager auseinandersetzt. Darauf aufbauend wird der Fokus schließlich auf die SS-Helferinnen gelegt, deren Rolle und unmittelbare Beteiligung am Mordprozess anders als jene der SS-Aufseherinnen in der Historiografie bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist. Abschließend setzt sich der Enkel eines ehemaligen SS-Arztes, der auf einigen der Fotos zu erkennen ist, mit der Geschichte seines Großvaters sowie dem schwierigen Umgang damit innerhalb der Familie auseinander.
Die Publikation, die vom Philipp von Zabern Verlag als hochwertiges Hardcover-Buch herausgegeben wurde, bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich dem komplexen Thema der Täterschaft im NS und der (Selbst-) Inszenierung durch Fotografie anzunähern. Einziger Wermutstropfen ist der Preis, der ebenso opulent ist wie das Werk selbst. Dennoch kann zur Anschaffung nur geraten werden, da die Bilder, die am Ende des Bandes großformatig und in hochauflösender Qualität abgedruckt sind, hervorragend für die Bildungsarbeit genutzt werden können.