Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Angesichts der zunehmenden Heterogenität von Schulklassen und außerschulischen Lerngruppen in Deutschland gewinnt das Thema Religion in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Der Verein „Miphgasch/Begegnung“ hat sich früh auf eine interkulturelle Pädagogik mit Berliner Schulklassen und anderen Gruppen aus der Stadt spezialisiert. So wurde in den Jahren 2006/2007 die Reihe „Zeitzeugenbegegnungen in der Einwanderungsgesellschaft“ mit Schüler_innen von drei Hauptschulen, einer verbundenen Haupt- und Realschule sowie einer Gesamtschule aus den Berliner Bezirken Neukölln, Schöneberg, Reinickendorf und Lichtenrade durchgeführt. In Zusammenarbeit mit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz entstand, herausgegeben von Franziska Ehricht und Elke Gryglewski im Jahr 2009 zudem die Materialsammlung „GeschichteN teilen. Dokumentenkoffer für eine interkulturelle Pädagogik zum Nationalsozialismus“.
Die folgenden Ausführungen basieren auf Eindrücken und Erfahrungen, die ich als Trainer in Seminaren von „Miphgasch/Begegnung“ in den Jahren 2009 bis 2012 sammeln konnte. Zu den Veranstaltungen, an denen ich in dieser Zeit beteiligt war, gehörten Gespräche mit jüdischen Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik, Seminare mit Berliner Schulklassen zu Nationalsozialismus und Nahostkonflikt sowie auf dem Projekt „Vielfalt der Erinnerung – Chancen für die Zukunft“. Das einjährige Projekt wurde 2010 gemeinsam von Franziska Ehricht, Guy Band und mir konzipiert und durchgeführt. Gefördert wurde die Maßnahme durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.
Der inhaltliche Ausgangspunkt war die im Antragstext ausgeführte Überlegung, dass eine „Offenheit für die historischen Erfahrungen und Leiden anderer sich immer nur dann findet, wenn sich ein Platz für das persönliche oder gruppenbezogene Geschichtsnarrativ findet. Zudem ist die Teilhabe am Geschichtslernen ein wesentliches Moment in der Ausbildung von Identitäten“. In den Bereich von Identitätsfragen fallen auch Religionsbezüge. Die Zielstellung des Projektes bestand darin, „die Lebensgeschichten und Erzählungen von Menschen mit unterschiedlichen Migrationserfahrungen und denen von aus Deutschland stammenden Juden in Verbindung zu bringen und gemeinsam relevante Aspekte der Migrationsgeschichte Deutschlands, der jüdischen Geschichte, der Geschichte des Nationalsozialismus, der Geschichte des Nahostkonfliktes (...) zu erarbeiten. Dies erfolgt unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven, die die Projektteilnehmer_innen jeweils darauf haben. Die Teilnehmer_innen treten dabei in einen Austausch über ihre sich teils ähnelnden, teils unterscheidenden Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen, die sie im Herkunftsland und/oder in Deutschland gemacht haben, aber auch über solche, die sie untereinander miteinander machen.“ Die Teilnehmer_innen mit einem muslimischen Hintergrund kamen aus der palästinensischen Moscheegemeinde „Haus der Weisheit“, andere beteiligten sich aufgrund einer Ausschreibung. Die Teilnehmer_innen mit einem jüdischen Hintergrund stammten aus dem Umfeld der liberalen jüdischen Vereinigung „Jung und Jüdisch“. Die jungen Erwachsenen und Erwachsenen waren entweder am Anfang ihres Studiums, mitten in der Studienphase oder hatten bereits ein Studium abgeschlossen und standen im Berufsleben. Die jeweiligen Religionsbezüge der Teilnehmenden waren unterschiedlich. Für manche spielten Religion und Glauben eine wichtige Rolle, Einzelne definierten sich als nichtreligiös, beziehungsweise gingen eher selten in eine Moschee bzw. Synagoge. Die Themen Glaube und Religion spielten im Seminargeschehen in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder hinein.
Im Laufe des Jahres wurden acht Workshoptermine durchgeführt. Dazu kamen zwei Wochenenden, bei denen die soziale Ebene, also gemeinsames Kochen, Essen und Austausch, aber auch ein Besuch der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück auf dem Programm standen. In den Workshops wurden Themen behandelt wie historisches und aktuelles arabisches und jüdisches Leben in Berlin, die Geschichte des Nationalsozialismus, der Nahostkonflikt und auch ein muslimischer und ein jüdischer Gottesdienst wurden gemeinsam besucht. Selbstverständlich wurden auch Fragen von Rassismus- und Antisemitismuserfahrungen immer wieder aufgegriffen. Im Verlauf des Jahres entstanden einzelne Freundschaften, die über das unmittelbare Projekt hinausreichten.
Ein solches Begegnungsprojekt ist keine Selbstverständlichkeit. In einem Kurzfilm über das Projekt, aus dem die folgenden Zitate stammen, drückte eine Teilnehmerin dies so aus: „Es ist keine Alltagssache, dass man sich mit Juden, also zwischen Juden und Muslimen, an einen Tisch setzt und redet, zusammen lacht und Kaffee trinkt, Kuchen isst. Also das war das Interessante.“ Eine jüdische Teilnehmerin bekannte: „Ich wusste tatsächlich nicht soviel über Islam als Religion. Weil wenn du mit jemand in der Schule bist, unterhältst du dich eher über Sachen, die in der „Bravo“ stehen und nicht unbedingt darüber wie ist das bei euch im Koran, wie ist es in der Thora.“ Unabhängig von der jeweiligen religiösen Prägung wurden die Gottesdienstbesuche von allen Beteiligten als Bereicherung empfunden. Eine ältere muslimische Teilnehmerin, ursprünglich aus Afghanistan stammend, war von dem Synagogenbesuch nachhaltig beeindruckt und ermunterte auf ihrer Facebookseite Freund_innen dazu, einen jüdischen Gottesdienst zu besuchen. Im Film erzählte sie: “Allein das Zusammensein mit Menschen jüdischen Glaubens ist für mich jetzt wirklich von großer Bedeutung. Und dann die zweite positive Sache die ich erfahren habe, war der Besuch einer Synagoge, dort einen Gottesdienst miterlebt zu haben und festgestellt zu haben wie viele Gemeinsamkeiten da vorhanden sind.“ Die ausgewählten Beispiele sind nicht untypisch, auch für anders zusammengesetzte Gruppen. Das Verständnis darüber, dass die drei monotheistischen Religionen dieselben Ursprünge haben und miteinander verwandt sind, ist bei vielen, vor allem bei Jugendlichen, nur schwach ausgeprägt oder wie im vorliegenden Beispiel eher abstrakt vorhanden. Fehlende Möglichkeiten für religiös orientierte Jugendliche sich grundlegend mit der Eigenreligion auseinanderzusetzen sind hierfür sicherlich ein Grund. Was für diese bildungs- und aufstiegsorientierte Gruppe gilt, macht sich bei bildungsbenachteiligten Jugendlichen verstärkt bemerkbar. Begegnungsprojekte können einen Beitrag zum wechselseitigen Verständnis leisten. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Begegnung auf Augenhöhe. Dazu gehört, bei der Zusammensetzung der Gruppen darauf zu achten, dass die Teilnehmenden über einen ähnlichen sozialen Status und ein ähnliches Bildungsniveau verfügen. Grundlegende Unterschiede in diesen Bereichen sind dazu geeignet, Erfahrungen sozialer Hierarchien zu reproduzieren, die schlimmstenfalls zur Bestätigung eigener Vorurteile über die jeweils andere Gruppe beitragen.
Im Projekt „Vielfalt der Erinnerung – Chancen für die Zukunft“ war die religiöse Komponente eine von mehreren, die zur Sprache kamen. Da viele Teilnehmer_innen, auch die jüdischen, über Migrationserfahrungen verfügen, waren diese und deren Vielfalt ein durchgängig prägendes Moment. Im Projektzeitraum war die Debatte um die rassistischen, teils antisemitischen Thesen von Thilo Sarrazin in vollem Gange. Sowohl die muslimischen, als auch die jüdischen Teilnehmer_innen fühlten sich von diesem Diskurs betroffen, aber auch bedroht. Gleichzeitig schuf der Diskurs in der Gruppe eine Einigkeit darüber, dass es wichtig ist, sich gegen Ausgrenzungsmomente seitens der Mehrheitsgesellschaft gemeinsam als Minderheiten zu verhalten.
Für religiös orientierte Jugendliche kann aber auch die Konfrontation mit nichtreligiösen, atheistischen Einstellungen verunsichernd und zugleich anregend wirken. Am Rande eines Seminars mit Berliner Jugendlichen zum Nahostkonflikt kam es mit einem muslimisch geprägten und türkischstämmigen Jugendlichen und mir zu einem Gespräch. Der Teilnehmer war sehr an den Seminarinhalten interessiert und wollte von mir wissen, ob ich Jude oder Christ sei. Ich verneinte beides und erklärte, dass ich an keinen Gott glauben würde. Die Reaktion meines Gegenübers war offensichtlich. Er war schockiert. Er meinte, dass es ihm egal sei, was jemand glaube, aber glauben müsse man doch und ich würde mich doch gut in den Religionen auskennen. Während des kurzen Pausengesprächs ließ sich die Thematik nicht ausführlich erörtern. Als Trainer war diese Situation für mich überraschend, da ich davon ausgehe, dass der Jugendliche auch andere Begegnungen mit nichtreligiösen Menschen hat. Der Teilnehmer brachte das Thema noch zweimal in das Seminargeschehen ein und zeigte somit an, dass er dadurch bewegt und verwirrt war. Am Ende kam er noch einmal auf mich zu. Seine Ansprache lässt sich derart zusammenfassen, dass er völliges Unverständnis für meine areligiöse Haltung hatte, das Seminar aber dennoch gut fand, auch weil ich mich respektvoll gegenüber seiner Religion geäußert hätte. Für ihn wohl eine neue Erfahrung seitens eines Atheisten.
Diese Beispiele zeigen auf, dass religiöse Haltungen und religiöse Themen in der Bildungsarbeit eine wichtige Rolle spielen. Sie sind allerdings nur ein Faktor unter mehreren, der jugendliche Lebenswelten berührt. Das gilt für den Islam und das Judentum, aber auch für den Einfluss des Christentums auf Bildungsprozesse, auch wenn letzteres in Berlin und den östlichen Bundesländern eine eher geringe Rolle spielt. Europa wurde wesentlich von der Geschichte und den Werten der drei monotheistischen Religionen geprägt. Dieser Umstand lässt sich nicht ignorieren. Für das historische Lernen ist daher eine Auseinandersetzung mit Glaubenssystemen und deren positiven wie negativen Auswirkungen unabdingbar.
Religion ist, wie die Praxis zeigt, auch in säkularisierten Gesellschaften ein wichtiger Faktor des Lebens. Dies gilt nicht erst für die heutige deutsche (Post-)Migrationsgesellschaft. Die Fragen junger Menschen, die um Sinnstiftung und Identitätsprozesse kreisen, sind im Grunde bei Muslim_innen, Christ_innen, Jüdinnen und Juden sowie Atheist_innen dieselben. Dementsprechend kann Religion als produktives Potenzial im pädagogischen Prozess genutzt werden. Das bedeutet nicht zwangsläufig eine unkritische Haltung gegenüber Glaubenssystemen einzunehmen, oder selbst gläubig zu sein, sehr wohl aber respektvoll religiösen Teilnehmer_innen zu begegnen und sich fundiert mit ihren Fragestellungen auseinanderzusetzen. Auch für Pädagog_innen birgt der Umgang mit Fragen rund um Religion und Glauben Überraschungen und Verunsicherungen, aber auch Bereicherungen, geht es doch um grundlegende Fragen der eigenen Lebenseinstellung. Unabhängig davon, ob man selbst religiös ist oder nicht, gehört die Auseinandersetzung mit Religion in die formale wie die non-formale Bildung.