Stolpersteine sind in Berlin und zahlreichen anderen Städten und Dörfern inner- und außerhalb Deutschlands mittlerweile ein fester Bestandteil des Stadtbildes. In Berlin, in dem vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten mehr als 160.000 Juden und Jüdinnen lebten, trifft man in nahezu allen Stadtteilen auf die kleinen bronzenen Steine, die an die von den Nationalsozialisten ermordeten Bewohner_innen der Häuser erinnern, vor denen sie in das Straßenpflaster gesetzt wurden. Während die Steine gerade in der Bildungsarbeit sinnvoll genutzt werden können, um zum einen die Dimension des Holocaust und zum anderen die Tatsache zu vermitteln, dass die jüdischen Mitbürger_innen aus der Mitte ihrer nicht-jüdischen Nachbarn heraus verfolgt, verhaftet und verschleppt wurden, lassen die wenigen Informationen auf den Steinen kaum Rückschlüsse auf das tatsächliche Schicksal der Menschen zu. Auf der Website der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin gibt es jedoch die Möglichkeit, zu einzelnen Biografien weiter zu recherchieren. Zwar finden sich zu manchen Personen wenig mehr Informationen als jene auf den Steinen, doch lassen sich auf der Seite auch einige ausführliche Lebensgeschichten, viele sogar mit Fotografien versehen, aufrufen. Das Suchmuster entspricht hier allerdings dem Projektkonzept, das sich die Sichtbarmachung der durch die Nationalsozialisten Ermordeten im Stadtbild und dadurch eine Verstetigung der Erinnerung an sie zur Aufgabe gemacht hat. Während man also die Personensuche nach Straßen, Stadtbezirken und Nachnamen ordnen kann, finden sich keine speziellen Auswahlmöglichkeiten, die sich auf die spezifische Verfolgungsgeschichte der Opfer – also auf Zwangsarbeit, Deportationsdatum, Deportationsort, Ghettos, Lager, etc. – beziehen. Dadurch bleibt das Wissen über die nationalsozialistische Verfolgung oft diffus und für Jugendliche nicht greifbar.
Ein studentisches Projekt der Humboldt Universität Berlin hat sich unter Prof. Dr. Michael Wildt seit 2009 darum bemüht, eben diese individuellen Verfolgungsgeschichten sichtbar zu machen und in das Gedenken an die Opfer einzubinden. Dafür haben die Student_innen die Biografien jener Berliner_innen erforscht, die zwischen 1941 und 1942 in das Ghetto Minsk und das nahegelegene Vernichtungslager Malyi Trostenez in Weißrussland – zu diesem Zeitpunkt Teil des im Baltikum von den Nationalsozialisten errichteten Reichskommissariats Ostland – deportiert und zum größten Teil dort ermordet wurden. Die Ergebnisse der Recherchen wurden zunächst in einer Wanderausstellung in Berlin und in russischer Sprache übersetzt im Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) in Minsk vorgestellt. 2013 erschien außerdem im Metropol Verlag ein Gedenkbuch, das die Lebensgeschichten der nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden vereint. Zusätzlich dazu wurde eine Website erstellt, auf der die Biografien anhand eines Stadtplans abgerufen werden können. Sowohl in dem Buch als auch auf der Website zeigt sich allerdings, wie schwer es ist, die Geschichten der Opfer zu rekonstruieren. Trotz der langwierigen und engagierten Arbeit der Mitarbeiter_innen ist das Projekt auch eines, das zahlreiche Lücken aufweist. Die Student_innen haben jedoch versucht, diese Lücken durch allgemeine Angaben und Erläuterungen zumindest ansatzweise zu füllen. Anders als beispielsweise beim Stolpersteine-Projekt bietet die Website von Berlin-Minsk deshalb ergänzende Informationen, die die individuellen Verfolgungsgeschichten der Opfer kontextualisieren und miteinander verknüpfen. Dies ermöglicht den Besucher_innen der Seite, einen Deportationstransport vom Startpunkt bis zum Ende zu verfolgen und mehr über die Bedingungen an den einzelnen Stationen zu erfahren. Wie gestaltete sich der Lebensalltag von Berliner Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation 1941 in Berlin? Wo wurden die Menschen vor der Abfahrt der Transporte gesammelt? Wie lief eine Deportation ab? In welche Umstände gelangten die Berliner_innen bei ihrer Ankunft in Minsk? Wie sah das Leben im Ghetto aus? Diese und andere Fragen beantwortet die Seite anhand von kurzer und verständlicher Begleittexte sowie durch einige Berichte von Überlebenden.
Durch die Fokussierung auf zwei spezifische Orte – einen Herkunftsort und einen Zielort – bietet das Projekt Berlin-Minsk die Möglichkeit, die Verfolgung der Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus zu vergegenständlichen und Jugendlichen zu vermitteln, wie lang und verzweigt sich die einzelnen Verfolgungsgeschichten gestalteten. Dadurch wird das Thema konkreter und damit auch greifbarer. Im Rahmen von Bildungsangeboten bietet sich die Seite deshalb sowohl dafür an, konkrete Biografien zu erforschen oder den Transport geografisch zu verfolgen, als auch, um über Formen und Möglichkeiten des Erinnerns nachzudenken und diese zu diskutieren.