Heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, scheint es die wichtigste und gleichzeitig eine der schwierigsten Aufgaben in der historisch-politischen Bildung zu sein, im Lernen über den Holocaust Anknüpfungspunkte für nachfolgende Generationen zu schaffen und Inhalte und Angebote an die veränderten Voraussetzungen und Anforderungen heutiger Lernender anzupassen. Während sich in der Bundesrepublik über die Jahrzehnte ein vielfältiges und heterogenes Netz aus Gedenkstätten, Denkmälern und -orten herausgebildet hat, stellt sich dabei gleichzeitig die Frage, inwiefern sich die Lehren aus Krieg und Massenmord mit wachsender zeitlicher Distanz und dem nahenden Ende der direkten Zeugenschaft überhaupt für heutige Jugendliche aktualisieren lassen.
Wie kann also historisches Lernen zu Zweitem Weltkrieg und Holocaust – sowohl im Unterricht als auch im außerschulischen Bereich – heute aussehen? Welchen neuen Herausforderungen müssen sich Lehrer_innen, Gedenkstättenmitarbeiter_innen und Multiplikator_innen der außerschulischen Bildungsarbeit stellen? Die im Januar 2016 erschienene APuZ stellt sich diesen Fragen aus verschiedenen Perspektiven. Mehrere renommierte Historiker_innen und Didaktiker_innen haben sich dafür in sehr unterschiedlichen Beiträgen mit dem Thema auseinandergesetzt und damit zahlreiche Möglichkeiten zur Selbstreflexion und zur weiterführenden Diskussion geschaffen.
In einem ersten, einführenden Beitrag setzt sich Volkhard Knigge mit den Anforderungen an historisches Lernen im Allgemeinen und jenen Institutionen auseinander, die zur Weitergabe von Geschichte und Geschichtsbewusstsein dienen. Dabei zeichnet er zunächst die Entwicklungen nach, die im Laufe der Jahrzehnte das kollektive Gedächtnis in der Bundesrepublik sowie Funktion und Bedeutung der Gedenkstätten als Träger des kulturellen Gedächtnisses verändert und dazu geführt haben, dass Gedenken heute nicht länger als „Nestbeschmutzung“, sondern als allgemeingültige Staatsräson angesehen wird. Trotz oder gerade wegen dieser Entwicklungen käme es jedoch heute, so Knigge, zu einer historischen und inhaltlichen Zergliederung von historischem Lernen, durch welche der Schulunterricht oft einer reinen Faktenvermittlung diene, während Gedenkstätten schließlich dafür verantwortlich seien, moralische Bezüge und politische Ansichten zu vermitteln. Neben dieser Aufteilung in kognitive und emotionale Lernerfahrungen habe eine nach wie vor mangelnde Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion sowie die zunehmende zeitliche Distanz außerdem im Kontext des historischen Lernens zu einer immer ausgeprägteren Fokussierung auf die Erinnerung geführt, deren Ziel es in erster Linie sei, eine Generation von Zeugen der Zeugen zu erschaffen. Diese normative Rhetorik der Erinnerung erschwere jedoch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der von dem Holocaust-Überlebenden Imre Kertesz 1995 als „unannehmbar“ bezeichneten Geschichte, also jener Erfahrung des „radikal Bösen“, das nicht hätte passieren dürfen und das weder damals noch heute als identifikationsstiftend oder tradierungswürdig angesehen werden darf. Insbesondere in Zusammenhang mit der Bedeutung von „unannehmbarer“ Geschichte fragt Knigge schließlich auch, was das viel beschworene „Lernen aus der Geschichte“ überhaupt bedeuten kann und ob ein solches Lernen tatsächlich möglich ist. Den Begriff der Unannehmbarkeit ernst nehmend, plädiert Knigge dabei abschließend für eine bewusste Selbstbeunruhigung der Lernenden an historischer Erfahrung, um so, in Abgrenzung zu einer Pädagogik der Überforderung und des Schockierens, im Lernkontext eben dieser Unannehmbarkeit von Geschichte und insbesondere der Geschichte des Holocaust gerecht zu werden und eine ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer fortwährenden Relevanz und der Gewalt, die sie erzeugte und nach wie vor erzeugt, zu ermöglichen.
Welche Auswirkung die Globalisierung auf die Erinnerung hat, fragt Natan Sznaider in seinem Beitrag. Ist eine globalisierte Welt eine Welt ohne Gedächtnis? Im europäischen Kontext macht Sznaider eine Trennung zwischen europäischem und nationalem Gedächtnis aus. Dabei, so Sznaider, bliebe die nationale Ebene auch und gerade in offiziellen und öffentlichen, also kollektiven Erinnerungsdiskursen nach wie vor von übergeordneter Bedeutung, wodurch die mit der zunehmenden Europäisierung einhergehende Uneindeutigkeit nicht genügend Berücksichtigung fände. Um jedoch ein analytisches Verständnis von moderner, also europäisierter Gesellschaft zu entwickeln, sei es an der Zeit, erkenntnistheoretische Untersuchungen von einer rein nationalen Perspektive zu lösen und zu erweitern. Eine kosmopolitische Erinnerung, also eine, die den Fokus erweitert und verschiedene Perspektiven auf die Geschichte zulässt, müsse also zunächst in erster Linie auch die Erinnerungen der „Anderen“ wahrnehmen und als gleichwertig anerkennen. Eine solche Erinnerung, von Sznaider als reflexiver Partikularismus bezeichnet, müsse daher die Ambivalenz einer europäischen Identität widerspiegeln, (selbst)kritische Narrative über Nation/en zulassen und einen Perspektivwechsel aktiv praktizieren.
Astrid Messerschmidt setzt sich mit der Frage nach einer geschichtsbewussten Bildungsarbeit im Kontext der Migrationsgesellschaft auseinander. Dabei bemüht sie sich zunächst um eine Definition und Einordnung des Begriffs der Migrationsgesellschaft, der nicht selten Prozessen der Abgrenzung und des Fremdmachens diene, die dann im Kontext der Tradierung von Geschichtsbewusstsein eine kollektive Nichtbereitschaft zur kritischen Selbstreflexion zur Folge habe. Die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust habe in Deutschland nach wie vor eine starke emotionale Komponente, die sich vor allem in der verstetigten Abwehr eines vermuteten Schuldvorwurfs widerspiegele. Historisches Lernen in der Migrationsgesellschaft habe deshalb eine zwangsläufige Spaltung in zwei vermeintlich homogene Gruppen zur Folge, die sich in erster Linie auf das jeweilige Verhältnis zu NS und Holocaust beziehe. Eine negative Haltung gegenüber den „Anderen“ innerhalb der deutschen Gesellschaft illustriere demnach auch die Unfähigkeit, mit Diversität umzugehen und Ambivalenzen auszuhalten. Im Bereich der historischen Bildung und der Gedenkstättenarbeit biete es sich deshalb an, an Konzepte der rassismuskritischen Migrationspädagogik anzuknüpfen und damit eine machtreflexive Komponente in die eigene Arbeit einzubringen. Erst eine aktive selbstreflexive Praxis könne, so Messerschmidt, eine sinnvolle migrationsgesellschaftliche Kontextualisierung der Gedenkstättenpädagogik hervorbringen.
Welchen Schwierigkeiten im Umgang mit der NS-Geschichte und den dadurch evozierten Reaktionen bei den Besucher_innen Gedenkstätten und ihre Mitarbeiter_innen heute ausgesetzt sind, zeigt auch Elke Gryglewski in ihrem Beitrag. Darin verweist sie zunächst auf den inzwischen inflationären Gebrauch der Begriffe „Universalisierung“ und „Historisierung“ insbesondere im Zusammenhang mit dem Holocaust. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich ebendiese Begriffe verstanden und verwendet werden, und welche Missverständnisse dadurch im kollektiven Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte entstehen. Gerade im Kontext des Gedenkens zeitigten Missverständnisse solcherart sowie die Übertragung der vollen Verantwortung für alle erinnerungskulturellen Prozesse an die Gedenkstätten sehr unterschiedliche und sich teilweise widersprechende Erwartungen an die Orte, ihre Mitarbeiter_innen und deren Arbeit. Diese teilweise eigenen und teilweise von außen an Gedenkstättenmitarbeiter_innen gerichteten Erwartungen und Herausforderungen bündelt Gryglewski in ihrem Beitrag unter verschiedenen Schlagworten – Ende der Zeitzeugenschaft, Distanz und Nähe, Zwischen Aneignung und Überdruss, Zweckgerichtete Universalisierung, Wissen und Erinnern, Rolle der Gedenkstätte – und führt diese aus. Dabei stellt sie auch verschiedene Überlegungen darüber an, wie man aus zukunftsgerichteter Perspektive diesen Herausforderungen begegnen kann, wobei sie insgesamt vor allem für eine professionelle und reflexive Praxis plädiert.
In einem abschließenden Beitrag fragt Micha Brumlik schließlich nach dem Vorhandensein universalistischer Werte in einer globalisierten Welt. Im Kontext einer globalisierten Weltgesellschaft, deren Basis die globale Vernetzung sowie vielfältige Kommunikationslinien und -möglichkeiten bilden, gelten zunehmend die Menschenrechte als universal bedeutsame Werte. Ob die Erfahrungen aus dem Holocaust in diesem Zusammenhang jedoch als argumentatives Mittel in Bezug auf die Einführung und Einhaltung von Menschenrechten auf internationaler, ja globaler Ebene genutzt werden können, hinterfragt Brumlik in seinem Aufsatz und vergleicht dabei diese mit anderen historischen Komplexen und deren (Nach)Wirkungen in Bezug auf die Menschrechtsbildung. Dabei analysiert er vor allem den transatlantischen Sklavenhandel der vergangenen vierhundert Jahre aus geschichtspolitischer und menschenrechtsbildender Perspektive und plädiert für das Lehren einer „Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ mit dem Ziel, eine moralische Bildung in weltgesellschaftlicher Verantwortung zu etablieren.
Die Publikation eignet sich insbesondere für Gedenkstättenmitarbeiter_innen, Lehrer_innen und Multiplikator_innen der außerschulischen Bildungsarbeit, um die eigenen Konzepte und das eigene Handeln einer kritischen Reflexion zu unterziehen und neue Impulse für die eigene Arbeitspraxis und den jeweiligen Arbeitskontext zu gewinnen. Durch die Auswahl der Autor_innen, die aus sehr unterschiedlichen Feldern stammen und das Thema dadurch aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, eröffnen die einzelnen Beiträge insbesondere in Verbindung miteinander einen sehr vielfältigen, diversen und differenzierten Einblick in aktuelle Diskurse, Ansätze und Entwicklungen in der historischen Bildung und der Gedenkstättenarbeit.