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„Möchtest du in einer Demokratie leben oder in einer Diktatur? Warum?“ Diese Frage wird in einem Planspiel zum Aufstand des 17. Juni 1953 an Grundschülerinnen und Grundschüler der 3. bis 6. Klasse gerichtet.
„Schneide die unten stehenden Aussagen über Freiheitsrechte aus“, lautet dann die Aufgabenstellung: „Markiere alle, die dir richtig erscheinen, mit einem fröhlichen Smiley und alle, die dir falsch erscheinen, mit einem traurigen Smiley. Klebe dann die Aussagen mit lachendem Smiley unter ‚Demokratie‘ und die mit einem traurigen Smiley unter ‚Diktatur‘“. Die zu sortierenden Aussagen lauten beispielsweise: „Ein paar Menschen treffen die Entscheidungen für alle“ oder „Alle Menschen haben die gleichen Rechte“.
Lehrern und Lehrerinnen wird dazu folgende ergänzende Erläuterung empfohlen: „Demokratie: Der griechische Begriff ‚Demokratie‘ heißt übersetzt ‚Herrschaft des Volkes‘ und bedeutet, dass alle Bürger in einem Land die gleichen Rechte haben [...]. Diktatur: Das ist das Gegenteil einer Demokratie. Eine Partei oder auch nur eine Person trifft alle Entscheidungen in einem Land, ohne auf den Willen des Volkes Rücksicht zu nehmen. [...].“
Das Planspiel wurde 2013 von der Bildungsagentur capito mit finanzieller und ideeller Unterstützung der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur entwickelt. Den Autorinnen und Autoren war dabei offenbar bewusst, dass ihre Zielgruppe Schwierigkeiten haben dürfte, sich in eine komplexe historische Gemengelage wie den 17. Juni 1953 hineinzudenken: „Die deutsche Teilungs- und Einheitsgeschichte und das Leben in einer Diktatur können sich Kinder im Grundschulalter kaum vorstellen.“ Jedoch verfügten sie über „einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“, so dass das Ereignis durchaus „als Referenzrahmen für den Kampf um Freiheitsrechte sowie zur Vermittlung eines demokratischen Grundverständnisses“ dienen könne.
Warum aber sollen Grundschülerinnen und Grundschüler den ‚Kampf um Freiheitsrechte‘ an einem historischen Beispiel nachvollziehen, das für dessen gewaltsame Niederschlagung steht? Und ist nicht auch ein „demokratisches Grundverständnis“ besser am positiven Beispiel, bestenfalls im Zuge alltäglicher Demokratieerfahrung zu erwerben? Will man hingegen das vielschichtige Leben in der DDR zum Thema machen, ließen sich für diese Altersgruppe sicherlich nachvollziehbarere Anschauungsgegenstände finden als der 17. Juni 1953.
Vor allem aber stellt sich die Frage, warum Kindern ein Verständnis von Demokratie und Diktatur beigebracht werden sollte, das eher einem Märchenbuch entlehnt scheint als dass es mit irgendeiner bisher bekannten historischen Wirklichkeit korrespondiert: Nirgendwo ‚haben‘ alle Bürger und Bürgerinnen die gleichen Rechte, und kein Diktator kann es sich leisten, den ‚Willen des Volkes‘ (der ja im übrigen nie homogen ist) komplett zu ignorieren.
Auch in einer Lehrerhandreichung der Konrad Adenauer Stiftung mit dem Titel „DDR: Mythos und Wirklichkeit“ wird mit dichotomen Gegenüberstellungen gearbeitet. In einer zweispaltigen Tabelle wird der „demokratische Rechtsstaat“ schlicht als Gegenteil einer „Diktatur“ gezeichnet (z.B.: „demokratische Wahlen“ – „keine demokratischen Wahlen“ usw.).
Im gleichen Verfahren werden „Planwirtschaft“ und „soziale Marktwirtschaft“ kontrastiert (z.B.: „Mangel“ – „Vielfalt“; „Wohlstand für Privilegierte“ – „Wohlstand für alle“ [sic!]; „Kontrolle durch den Staat“ – „Vertrauen in den Menschen“). Laut nebenstehender Lernzielliste sollen Schülerinnen und Schüler so „die unnatürliche Behinderung privaten Erfolgsstrebens durch die sozialistische Gleichheitsideologie“ erkennen und „die Einschränkung wirtschaftlicher Freiheit als zentrale Einschränkung der persönlichen Freiheit beurteilen“ lernen.
Einleitend bezieht man sich dabei explizit auf eine Studie des Forschungsverbund SED-Staat, die 2012 unter dem Titel „Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ erschien, gefördert vom damaligen Bundeskulturstaatsminister und diversen Landeszentralen für politische Bildung. Basierend auf Erhebungen, über deren methodische und normative Prämissen sich streiten lässt, wird hier eine mangelnde Fähigkeit von Jugendlichen moniert, trennscharf zwischen ‚Demokratie‘ und ‚Diktatur‘ zu unterscheiden, konkret zwischen der Bundesrepublik und dem NS-Regime, vor allem aber der DDR. Mit Blick auf deren Untergang wird zudem mehr öffentliches „Freiheitspathos“ angemahnt.
Die konstatierten Mängel führen die Autoren und Autorinnen auf ein ideologisches Bias der bundesrepublikanischen Geschichtsdidaktik und Zeitgeschichtsschreibung seit ‚1968‘ zurück, namentlich derjenigen Vertreterinnen und Vertreter beider Professionen, die für die didaktische Zielvorstellung eines kritisch-reflexiven Geschichtsbewusstseins beziehungsweise eine dezidiert gesellschaftsgeschichtlich orientierte DDR-Forschung stehen.
Ihnen wird eine Affinität zu sozialistischem Gedankengut unterstellt, die ihre Loyalität zur ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ fraglich erscheinen lasse, was sich dann eben auch im öffentlichen Geschichtsbild und im Schulunterricht niederschlage. Historisch-politische Bildung müsse jedoch primär „dazu befähigen, den Wert einer freiheitlich demokratischen Grundordnung zu schätzen und Gefahren, die einer solchen Ordnung drohen, zu erkennen.“
Auf Grundlage dieser in jeder Hinsicht gewagten Thesen fordern die Autoren und Autorinnen abschließend eine rigorose Ausrichtung der historisch-politischen Bildung an der Diktatur-Demokratie-Dichotomie und damit letztlich am Diskurs des Verfassungsschutzes: Ein zu bewahrender gesellschaftspolitischer Status Quo, der seit jeher von links und rechts bedroht wird.
Ein Verständnis von Demokratie und Diktatur, das beide Begriffe definiert, indem sie einander schematisch gegenüber gestellt werden, erinnert an den geschichts- und gesellschaftspolitischen Diskurs der 1950er- und 1960er-Jahre. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges orientierte sich die historisch-politische Bildung an einem reduktionistischen Totalitarismusparadigma: Im Nationalsozialismus und Kommunismus beherrschten demzufolge wenige Drahtzieher qua Terrorregime ein ‚verführtes‘ und/oder hilflos ausgeliefertes ‚Volk‘.
Mit dieser Lesart sollte der gewünschte Antikommunismus befördert werden, zugleich ermöglichte sie, auf eine allzu konkrete Auseinandersetzung mit der nur wenige Jahre zurückliegenden NS-Vergangenheit und ihren personellen und mentalen Kontinuitäten in der bundesrepublikanischen Gegenwart zu verzichten. Letztere konnte gegen den negativen Horizont ‚des Totalitarismus‘ als abstrakter ‚Hort der Freiheit‘ präsentiert, Kritik am gesellschaftspolitischen Status quo im Zweifelsfall als ‚moskaugesteuert‘ diskreditiert werden.
Eine in den 1980er Jahren vorgenommene Analyse von Schulbüchern der frühen Bundesrepublik resümiert mit Blick auf die damals verbreiteten Gegenüberstellungen von „freiheitlicher Demokratie und totalitärem Staat“: „Die wertgeladene Sprache und die Schwarz-Weiß-Malerei korrespondieren mit einer Idealisierung der Zustände in der Bundesrepublik. Die kritische Analyse der Realität tritt zurück hinter der normativen Komponente. Politische Bildung versteht sich in dieser Phase als ‚moralische Erziehung‘ und als Gesinnungsbildung.“
Dieserart Bildung geriet auch zeitgenössisch bald in Kritik. Eine derartige Staatsbürgerkunde, so wurde argumentiert, bediene sich letztlich der Methoden derer, gegen die sie mobilisieren wolle. Hermann Giesecke, der als einer der Wegbereiter für die Liberalisierung der politischen Bildung in der Bundesrepublik gilt, äußerte sich 1965 wie folgt zum „Demokratie-Diktatur-Modell“: „Gewiss ist es lebenswichtig für unsere Gesellschaft, sich kommunistischer und faschistischer Bedrohung zu erwehren; insofern gehören diese modernen ‚Totalitarismen‘ zum unbestreitbaren Stoff politischen Lernens. Aber die Regierungen, die wir zu kontrollieren haben, sind keine kommunistischen und faschistischen, sondern demokratische, und das, was wir an ihnen zu kritisieren haben, kann nur sehr entfernt damit zusammenhängen, was wir über die Politiker der DDR oder über die sowjetische Wirtschaftsplanung denken.“
Infolge solcher und ähnlicher Überlegungen wurden Ansätze einer politischen Bildung entwickelt, die nicht auf ein formalistisches Demokratieverständnis einschwören sollten, sondern Analyse-, Kritik- und Konfliktfähigkeit befördern und zur Teilhabe an demokratischen Aushandlungsprozessen motivieren wollten. Ein diesbezüglicher Minimalkonsens wurde nach einigen zeittypischen Grundsatzdebatten bekanntlich 1976 in Beutelsbach getroffen.
Das Totalitarismusparadigma wurde seit den 1960er Jahren auch aus der Geschichtswissenschaft heraus in Frage gestellt: Je mehr man das NS-Regime empirisch erforschte, desto weniger schien es dem behaupteten Top-Down-Modell zu entsprechen.
Auch die zunehmende öffentliche Debatte über die ‚unbewältigte Vergangenheit‘ lebte von Beginn an davon, die NS-Verbrechen eben nicht mehr in einem ‚totalitären Außen‘ zu verorten, sondern sie auf ihre vielfältigen Implikationen auch für eine demokratische Gegenwart hin zu befragen. Die Geschichte der bundesrepublikanischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist so gesehen eine der historisch-gesellschaftlichen Konkretisierung dieser Vergangenheit: Nur auf diese Weise konnten strukturelle und mentale Kontinuitäten sichtbar und diskutierbar werden, die über die notorischen ‚zwölf Jahre‘ hinausreichten.
Insbesondere die zivilgesellschaftliche Geschichtswerkstätten- und Gedenkstättenbewegung trug seit den späten 1970er Jahren zu dieser Konkretisierung bei, indem sie die NS-Vergangenheit und deren Rezeptionsgeschichte in ihrer ganzen Komplexität alltagsweltlich verankerte. Und gerade sie machte sich mit partizipativen, auf kontinuierlichen Austausch orientierten Praktiken und explorativen Methoden (‚forschendes Lernen‘, ‚Spurensuche‘) um die Beförderung einer demokratischen Geschichts- und Debattenkultur verdient.
Und das heißt: Eine Geschichtskultur, die ‚negative Vergangenheit‘ nicht als glücklich ‚abgeschlossene‘ Legitimationsressource für eine vermeintlich geläuterte Gegenwart funktionalisiert, sondern sie zu einem produktiven Irritationspotenzial macht, das immer wieder aufs Neue zum Ausgangspunkt für Diskussionen über die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft werden kann. Nur so bleibt Vergangenheit relevant – dass sie damit auch kontrovers bleibt, ist in einer Demokratie nicht nur selbstverständlich, sondern jederzeit begrüßenswert.
Die historisch-politische Bildung zur DDR-Vergangenheit muss sich endlich von den diskursiven Altlasten des Kalten Krieges und deutschen Sehnsüchten nach einer positiven nationalen Identität befreien. Ihre Aufgabe ist nicht, die ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ oder die ‚soziale Marktwirtschaft‘ als alternativlose ‚Lehren aus der Geschichte‘ zu affirmieren oder nachzuweisen, dass auch Deutsche in der Lage sind, eine Diktatur zu überwinden.
Ihre Aufgabe ist es, auch diese Vergangenheit historisch-gesellschaftlich zu konkretisieren, um sie auf diese Weise für eine kritische Reflexion mit Blick auf allerlei Gegenwartsfragen zu öffnen. Das kann nicht funktionieren, indem man ‚den Kommunismus‘ verdammt und dann ausschließlich auf Herrschafts- und Repressionspraktiken fokussiert. Man muss auch die strukturellen und mentalen Bedingungen des Sich-Arrangierens, Mitmachens und Befürwortens in den Blick nehmen und eine komplexe Alltagswelt sichtbar machen. Die vielfältigen Formen des Sich-Entziehens oder des Widerstandes und die demokratische Revolution von 1989 dürfen nicht im Sinne eines dauernden Kampfes um die ‚Einheit in Freiheit‘ vereinnahmt, sondern müssen in ihrem historischen Eigensinn nachvollziehbar gemacht werden. Und schließlich ist auch die schwierige Transformationszeit keineswegs unter den Teppich zu kehren.
Kurz: Wie mit Blick auf jede andere Vergangenheit auch hat historisch-politische Bildung zur DDR-Vergangenheit die Aufgabe, Themen und Fragen zu generieren, die für ein reflexives Verständnis der Gegenwart von Belang sind. Nicht zuletzt wäre hier auch eine kritische Historisierung bundesrepublikanischer Diskurse zur DDR vor und nach 1989/90 geboten.
capito. Bildungskommunikation: Probe den Aufstand! Opposition und Widerstand in der DDR am Beispiel des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Planspiel & Unterrichtsmaterial für die Klassen 3 bis 6, gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin o. J. [2013] (4.4.2016).
Konrad Adenauer Stiftung: DDR: Mythos und Wirklichkeit. Wie die SED-Diktatur den Alltag der Bürger bestimmte. Didaktische Begleitung zur gleichnamigen Ausstellung (= Handreichungen zur politischen Bildung Bd. 6), 3. überarb. Aufl., Sankt Augustin/Berlin 2014. (4.4.2016).
Klaus Schroeder u.a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen (=Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin), Frankfurt a.M. u.a. 2012.
Bernd Faulenbach: Zum Umgang mit dem Totalitarismus-Begriff vor und nach 1989. In: Lucia Scherzberg (Hg.): „Doppelte Vergangenheitsbewältigung“ und die Singularität des Holocaust (=theologie.geschichte Beiheft 5), Saarbrücken 2012, S. 113-133.
Walter Gagel: Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989/90. 3. überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2005.
Wolfgang Jacobmeyer (Hg.): Deutschlandbild und Deutsche Frage in den historischen, geographischen und sozialwissenschaftlichen Unterrichtswerken der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1949 bis in die 80er Jahre, Braunschweig 1986.
Cornelia Siebeck: Später Sieg des Kalten Krieges? Der Forschungsverbund SED-Staat empfiehlt eine Neujustierung der zeitgeschichtlichen Bildung, in: Gedenkstättenrundbrief 169 (2013), S. 44-54.