Anfang 1946 kam der Wohlfahrtsausschuss der Stadt Mannheim im Rathaus zusammen, um über das drängende Problem der Besatzungskinder zu beraten. Die Experten waren sich einig – diese Abkömmlinge alliierter Soldaten und deutscher Mütter dürften unter keinen Umständen zusammen mit dem eigenen Nachwuchs aufwachsen. Solcher Art Kinder seien allenfalls vorübergehend zu betreuen, ihr Aufenthalt in Deutschland könne nur eine kurze Zwischenstation in ihrem Leben darstellen.
Ähnlich wie in Mannheim argumentierten im Westen die meisten Kommunal- und Landesbehörden. Aus ihrer Sicht eröffneten sich für die „fremdstämmigen“ Neugeborenen drei Wege: die Privatisierung, also der Verbleib bei den Müttern respektive den Großeltern; die Hospitalisierung, also die Aufnahme in ein möglichst abgeschiedenes Waisenheim, oder die Überführung dieser Kinder in die Herkunftsländer der Väter.
In der Ostzone ließ es die offizielle Doktrin von einer Deutsch-Sowjetischen Freundschaft nicht zu, dass man die Nachkommen der siegreichen Sowjetsoldaten öffentlich zu Schandmalen stempelte. Doch auch hier verschwanden die „Russenkinder“ zunächst aus den Augen der Öffentlichkeit.
Die Besatzungskinder hatten von Geburt an ein schweres Los zu tragen, denn ihre Herkunft galt gleich in mehrerer Hinsicht als zwielichtig: Sie waren uneheliche Abkömmlinge und Kinder einer wie auch immer gearteten Verbindung mit dem Feind – als Folge freiwilliger sexueller oder sogar Liebesbeziehungen, aber auch infolge von Vergewaltigungen. Sicher war oft nur, dass ihr Erzeuger Soldat einer gegnerischen Nation war; sein Name, seine Biographie und die Geschichte der Beziehung zur Mutter aber blieben gewöhnlich im Dunkeln. Doch ob „Russen-“ oder „Amikind“, ob „Briten-“ oder ob „Franzosenbrut“ – als vielfach ungewollte und ungeliebte „Bankerte“ mussten die Besatzungskinder mitsamt ihren Müttern rigorose Ablehnungen und Diskriminierungen ertragen.
Bis heute existieren keinerlei verlässliche Statistiken über ihre Größenordnung. Im Jahr 1955 publizierte die Bonner Regierung erst- und einmalig Zahlen. Ihren Angaben zufolge waren in Westdeutschland und in West-Berlin seit Kriegsende insgesamt 68.000 geboren worden. Die von den Jugendämtern zusammengestellten Daten bezogen sich damals allerdings nur auf jene Mündel, die zum Stichtag unmittelbar unter Amtsvormundschaft gestanden hatten. Waren sie zu diesem Zeitpunkt nicht vom Jugendamt betreut worden, verschwanden sie aus den amtlichen Registern. Nicht zu reden von all jenen Kindern, deren Abstammung von den Müttern geheim gehalten wurde: aus Scham, bisweilen aber auch aus Angst, man könnte ihnen ihr Baby wegnehmen. Die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes offenbarten dennoch wichtige Fakten: Demnach stammten 55 Prozent der registrierten Mündel von amerikanischen Männern ab, 15 Prozent von Franzosen, zehn Prozent von Engländern, fünf Prozent von Rotarmisten (deren Mütter in den Westen übergesiedelt waren). Fast 5.000 Kinder waren farbig; sie wurden als „Mischlingskinder“ geführt. Die Mehrzahl der Besatzungskinder lebte in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Hessen, also in der französischen und der amerikanischen Besatzungszone.
Für die Sowjetische Besatzungszone beziehungsweise für die DDR wurden zu keinem Zeitpunkt Erhebungen angestellt. Wissenschaftliche Berechnungen gehen von mindestens 300.000 Kindern aus, die allein infolge von Vergewaltigungen unmittelbar zu Kriegsende geboren worden waren, spätere Geburten sind hier nicht einberechnet. Wir haben es demnach mit weit über 400.000 Besatzungskindern im Westen und im Osten zu tun.
Die Besatzungsmächte waren sich in einem Punkt einig: Ihre Soldaten mussten vor den Ansprüchen deutscher Frauen und Dienststellen geschützt werden; damit waren den Jugendämtern die Hände gebunden. „Bastardy proceedings“, also förmliche Unterhaltsklagen, blieben tabu. Ohne Unterstützung durch die Väter lebten diese „unvollständigen“ Familien (wie sie amtlich hießen) in der ohnehin schon kargen Nachkriegszeit mehrheitlich in finanziell desaströsen Verhältnissen. Zur wirtschaftlichen Not kamen die psychischen und sozialpsychischen Belastungen, kam die gesellschaftliche Ächtung. Nicht selten wurden die Betroffenen seelisch und körperlich misshandelt.
Anfang der fünfziger Jahre begann sich ihre Situation allerdings zu ändern; ihre bisherige strenge Separierung ließ sich nicht beibehalten. Spätestens mit dem Eintritt in die Schule mussten die Besatzungskinder ihr Haus, die Straße oder das Wohnviertel verlassen und sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld stellen. Im Klassenzimmer waren sie nun beständig den Diffamierungen und Diskriminierungen ihrer Mitschüler ebenso wie ihrer Lehrer ausgesetzt. Das Erlebnis des ersten Schultages von Martin S. stellte keineswegs eine Ausnahme dar. Der Sohn eines „weißen“ amerikanischen Offiziers wurde Ostern 1954 in der kurpfälzischen Stadt Ladenburg am Neckar eingeschult. Als der für den ersten Schultag fein zurechtgemachte Junge den Klassenraum betrat, rief ihm der Lehrer schon von weitem entgegen: „Du bist doch das Ami-Kind. Setz dich in die letzte Reihe. Neben dir darf niemand sitzen.“ Zeitzeugen können sich gut an solche schmerzlichen Ausgrenzungen erinnern. Der Übergang von der geschützten häuslichen Gemeinschaft in die Gesellschaft machte sie allerdings nicht nur zu Opfern unzähliger Angriffe. Jedermann in ihrem Umfeld wusste mit der Zeit, dass sie die deutsche Sprache und sogar den ortsüblichen Dialekt sprachen und dass sie mit den Gebräuchen der Heimat wohlvertraut waren. Insofern kam es durch das erzwungene nahe Zusammenleben mit diesen Kindern allmählich zu bedeutsamen gesellschaftlichen Lernprozessen: Die zunächst gänzlich abgelehnten und abgeschotteten Fremden avancierten mehr und mehr zu Vermittlern einer neuen Offenheit; ihre Präsenz im Alltag vor Ort und in der Öffentlichkeit induzierte Liberalisierungstendenzen, die sich in den 1960er Jahren mit Verve ihren Weg bahnten.
Dennoch: Die von Diskriminierungen begleitete Kindheit ohne Vater entfaltete bei den Betroffenen tiefe Auswirkungen bis zur Gegenwart, gerade für die Gegenwart. Ihnen gemein ist das immens starke Bedürfnis, Kontakt zum Vater respektive zu dessen Familie aufzunehmen. Anders als Kriegskinder im Allgemeinen, leben die Besatzungskinder bis heute mit einer „Schattenfamilie“. Der Vater war eben nicht im Krieg gefallen oder nach der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt. Er war gleichsam „über Nacht“ verschwunden und lebte nun an einem Ort weit entfernt, den Zugriffen der Söhne oder Töchter in Deutschland entzogen. Mit Fug und Recht können die zurückgebliebenen Besatzungskinder annehmen, dass, wenn womöglich auch die Väter bereits verstorben sind, so doch Halbgeschwister existieren, Mitglieder einer schmerzlich vermissten Familie. So manches Besatzungskind macht sich nun – im fortgeschrittenen Alter – auf die Suche nach seinen Wurzeln.
Besatzungskinder wurden freilich keineswegs nur in den vier Zonen des besetzten Deutschlands geboren. Mit einiger Gewissheit können wir annehmen, dass heutzutage außerhalb Deutschlands zwischen ein und zwei Millionen Europäer leben, deren leibliche Väter deutsche Wehrmachtssoldaten sind. Hinzu kommen die Millionen von „Soldatenkindern“, die nicht von einem deutschen, sondern von alliierten Soldaten während des Zweiten Weltkriegs gezeugt wurden. Überall in Europa dürften sie im letzten halben Jahrhundert vergleichbare Erwartungen gehegt und ähnliche Erfahrungen gemacht haben: Hintansetzungen in der eigenen Familie, Diskriminierungen in der Gesellschaft. Die Sorge der Mütter und Großeltern, welche die familiäre Aufgabe an die Kinder weitergaben, dass diese dereinst eine Loslösung ermöglichen würden. Aber auch die ambivalente Sehnsucht und die aufreibende Suche nach dem Vater – nach dem anwesend Abwesenden. Bis heute wissen wir kaum etwas über ihr Schicksal.