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In einer Fernsehdiskussion anlässlich der Pegida-Demonstrationen hat der Dresdner Politologe Werner J. Patzelt die aktuelle Konzeptlosigkeit der deutschen Einwanderungspolitik als "schwarzes Loch der politischen Kommunikation"bezeichnet und zur Hauptursache dieser irritierenden Protestbewegung erklärt.
Warum und wie dieses schwarze Loch entstanden ist, war nicht Gegenstand der Diskussion. Es liegt aber nahe, zu fragen, ob die Politiker als Volksvertreter hier nicht ähnlich geartete schwarze Löcher mit ihrer potenziellen Wählerschaft gemeinsam haben. Psychologisch können unter schwarzen Löchern auch tabuisierte Teile der eigenen Lebens- und Familiengeschichte verstanden werden. Themen, an die man nicht rühren darf. Einwanderung, die Not von Flüchtlingen, der Einfluss von Einwanderern auf die eigene Kultur – das sind Themen, die viele Deutsche offenbar fast 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus noch immer um den Verstand bringen.
Unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt sich die Lektüre des Sammelbands Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien, erschienen 2014 im Psychosozial-Verlag.
In seinem Beitrag »Morden für das vierte Reich. Transgenerationalität und Rechtsextremismus« beschreibt der Mitherausgeber Jan Lohl, wie sich bei den Nachkommen der Nationalsozialisten "Phantome" von deren "Herrenmenschenselbst"ausgebildet haben. Das Phantomhafte dieser Gefühlserbschaft sei zum einen darin begründet, dass die gesellschaftliche Konstellation, in der die oft durchaus lustvollen Machterlebnisse der (Groß-)Eltern möglich waren, nicht mehr gegeben ist, zum anderen darin, dass die aktuellen Phantomträger gewöhnlich wenig bis gar nichts über die konkreten Umstände dieser Machterlebnisse wissen. Es sei im Gegenteil so, dass die Kinder, die dazu bereits alt genug waren, von ihren Eltern als mögliche Geheimnisverräter bedroht wurden. Generell, so Lohl, wurde das "Herrenmenschenselbst" nicht etwa durch eine anerkennende Erziehung weitergereicht, sondern oft über harte Körperstrafen und Demütigungen der Kinder – bei gleichzeitiger hoher Loyalitäts- und Liebeserwartung. Dies erklärt sich nicht nur durch die harten Erziehungsregeln, die bereits vor dem Nationalsozialismus verbreitet waren und sozialpsychologisch zu dessen Machtergreifung beitrugen, sondern auch durch die dringend benötigte Entlastungsfunktion, die die Kinder für ihre demoralisierten Eltern erfüllen mussten. In ihren Kindern konnten die Eltern, so Lohl, ihre »verleugnete[n] Selbstanteile wie Schuld- und Schamgefühle, Schwäche und Zweifel an der eigenen Lebensgeschichte projektiv identifizieren« (S. 177). Weil sie diese Selbstanteile in der Nachkriegssituation zugleich fürchten mussten, suchten sie diese an ihren Kindern durch strenge Erziehung zu kontrollieren. Unter fortgesetzter Geheimhaltung der ursprünglichen NS-Mitläufer- oder Täterschaft entwickelten sich ähnlich zwiespältige Beziehungen auch zwischen den Folgegenerationen.
Eine Möglichkeit für derart emotional überforderte Jugendliche, Schuldgefühle aus ihrer Familiengeschichte zu vertreiben, sei der Beitritt zu rechtsradikalen Gruppen. In deren überall stark ausgeprägten historischen Bezügen würden Deutsche stets als verteidigungsberechtigte Opfer dargestellt und auch im Hinblick auf die Gegenwart, etwa im Zusammenhang der NSU-Morde, betreibe man (publizistische) Täter-Opfer-Umkehr. Nach Lohl "verschwindet [so] für Neonazis in ihren abgeschotteten Gruppen zunehmend die zeitliche Differenz zu dem vergangenen Leben der Großeltern" und es kommt zu einem "imaginären Zurückversetzen des eigenen Selbst in deren Geschichte" (S. 192).
Gleichwohl sind nicht alle Neonazis und Rechtsextreme Nachkommen von NS-Tätern und -Mitläufern und umgekehrt sind diese Nachkommen nicht alle Neonazis und Rechtsextreme geworden.
Angela Moré, die Mitherausgeberin des Bandes, bemerkt in ihrem Beitrag "NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen",dass diese auch in Wiedergutmachungsprogrammen, Friedensaktionen und in der soziale Arbeit mit im NS verfolgten Minderheitengruppen aktiv wurden. Zentrales Anliegen ihres Artikels ist es, auf das (therapiebedürftige) Leiden der Täternachkommen aufmerksam zu machen:
"Nicht selten haben die Nachkommen von Täter/innen und überzeugten Nationalsozialist/innen das Gefühl, mit ihnen stimme etwas nicht, sie seien nicht ganz in Ordnung. Sie fühlen sich fremd und andersartig und haben das dumpfe Empfinden, kein Recht auf ein eigenes, unabhängiges und unbeschwertes Dasein zu haben"(S. 211).
Als Quellen zum Verständnis dieser Symptomatik zieht sie neben psychoanalytischer Fachliteratur insbesondere autobiografische und dokumentarische Berichte von Töchtern und Söhnen verurteilter NS-Verbrecher heran, die mit großem persönlichem Mut den Nestbeschmutzer-Tabus ihrer Familien trotzten, die ihnen verheimlichte Realität gründlich recherchierten und als Buch oder Dokumentarfilm veröffentlichten.
Eine von ihnen ist Ute Althaus, die erst nach dem Tod ihres Vaters erfahren hat, dass er in den letzten Kriegstagen einen jungen Widerstandskämpfer persönlich festgenommen, verurteilt und hingerichtet hatte. Dafür wurde er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. In ihrem Beitrag zum hier vorgestellten Sammelband beschreibt Ute Althaus unter der Überschrift "Lügen – Wünsche – Wirklichkeiten" aus der Perspektive des in ihr selbst wiederentdeckten Kindes, was es heißt, mit Familiengeheimnissen aufzuwachsen:
"In meiner Kindheit gab es etwas, was ich nicht wissen sollte – und doch sollte ich genau wissen, worüber ich nicht sprechen und worüber ich keine Fragen stellen durfte. Mein Vater saß nach dem Krieg im Zuchthaus, das wusste ich. Weshalb, das wusste ich nicht. Das gehörte zum Familiengeheimnis. Obwohl mir gesagt wurde, dass die Mutter den Vater im ›Zuchthaus‹ besuchte, durfte ich das Wort ›Zuchthaus‹ nicht aussprechen. Es war verwirrend" (S. 272).
Aufgrund der Ungereimtheiten, die daraus resultierten, dass die Familie die Zuchthausstrafe des Vaters als Kriegsgefangenschaft tarnte, geriet das Kind Ute auch in Gesprächen in der Nachbarschaft und in der Schule oft in Verlegenheit. Von den Eltern, die sich als moralisch integre Nicht-Nazis präsentierten, wurde dies jedoch nicht etwa als dem Kind auferlegte Belastung interpretiert, sondern vielmehr als Ausdruck seiner mangelnden Loyalität, und seine Fragen als zu bestrafende »Unverschämtheit«.
Die Folgen für das Familienklima beschreibt Althaus so:
"Das Gebot, nichts nach außen zu tragen, machte die Familie zu einer verschworenen Gemeinschaft, in sich abgeschlossen, in der doch jeder alleine ist. Das Familiengeheimnis verwehrte nicht nur die Öffnung nach außen, sondern vereinzelt auch innerhalb der Familie" (S. 273).
Besonders nach der Rückkehr des zunächst idealisierten, nach seiner Rückkehr aber als kalt und unzugänglich gefürchteten Vaters verstärkte sich die »Mauer des Schweigens« in der Familie, hinter der die Empfindungen des Kindes »nicht nur auf keinen Widerhall [stießen], sondern im Gegenteil entwertet wurden« (ebd.).
In dieser verwirrenden Alltagswelt suchte die Schülerin Ute die Schuld für all diese Dissonanzen bei sich selbst und sie war froh über jede richtig gelöste Matheaufgabe, weil sie ihr bewies, dass sie noch nicht den Verstand verloren hatte. Nach einer psychoanalytischen Therapie und umfangreichen Recherchen war es ihr wichtigster Befreiungsakt, ihr Buch: NS-Offizier war ich nicht. Die Tochter forscht nach (2006) zu schreiben und zu veröffentlichen. Dabei wurde sie noch einmal – auch durch als lebensbedrohlich erlebte körperliche Symptome – mit ihrer tief sitzenden Angst, die elterlichen Schweigegebote zu verletzen, konfrontiert. Dem Kampf mit dieser Angst unterzog sie sich nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch, weil sie in ihrer Geschichte »ein individuelles Beispiel für viele« sieht. Die "Berechtigung« ihres Buches sieht sie vor allem darin, dass es »andere Menschen dazu ermuntert, die Vergangenheit der eigenen Familie zu recherchieren und bisher nicht gestellte Fragen zu stellen" (S. 281).
Der Sammelband ist thematisch vorrangig auf die "unbewussten Erbschaften" in Familien der Nationalsozialisten fokussiert. Die psychischen Folgewirkungen in den Familien der Verfolgten und Überlebenden, die in Zusammenarbeit mit ihren Therapeuten zuerst entdeckt wurden und insofern forschungsstrategisch wegbereitend waren, werden in einem Beitrag von Kurt Grünberg und Friedrich Markert angedeutet. Hier bearbeitet die Enkelin eines KZ-Überlebenden die Lücke in ihrer Familienerinnerung, indem sie eine Ausstellung seiner Korrespondenz und weiterer Exponate aus der NS-Zeit (mit)kuratiert. Die Autoren waren von ihr zur Anwendung des am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut entwickelten Szenischen Erinnerns der Shoah auf die Exponate gebeten worden und konnten ihr mit dieser Methode eine Annäherung an das Extremtrauma ihres Großvaters ermöglichen, über das dieser niemals mit ihr gesprochen hatte.
Eine Möglichkeit für Nachkommen der Opfer- wie der Täterseite, die unbewussten und unerwünschten Erbschaften des Nationalsozialismus zu bearbeiten, ist die gemeinsame Dialogarbeit. Kern dieser Arbeit ist es, dass die Teilnehmenden einander erzählen, welche Auswirkungen der Massenmord auf den Lebensverlauf ihrer (Groß-)Eltern bis hin zu ihrem eigenen gehabt hat, und dass sie gemeinsam darüber sprechen.
Elke Horn berichtet in ihrem Beitrag: "Was tun mit dem transgenerationalen Erbe?" über ihre Dialogerfahrungen in dem 1995 von jüdischen und nicht-jüdischen deutschen Psychotherapeuten gegründeten Arbeitskreis PAKH (Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust) sowie in gemischten Gruppen mit friedenspolitischer Intention. In bewegenden Beispielen zeigt sie, wie latente Schuld- und Schamgefühle sowie überstarke Loyalitätsbindungen an die (Groß-)Eltern im Gruppenprozess aktualisiert und auf ein realitätsgerechtes Maß zurückgeführt werden konnten. Dabei sei das Erzählen von Träumen, aber auch das genaue Analysieren von Konfliktsituationen hilfreich gewesen. Horn fasst zusammen:
"Durch Biografie-Arbeit werden sich die Dialogpartner/innen ihrer eigenen Verletzungen und derjenigen der anderen bewusst. Sie lernen ihre inneren Verflechtungen mit den Eltern und Großeltern kennen und können sich in einem manchmal schmerzlichen Prozess von transgenerational vermittelten destruktiven Loyalitäten trennen. Sie können die Fähigkeit entwickeln, nicht jede ›Einladung‹, sich als ›Opfer‹ oder ›Täter‹ zu fühlen, anzunehmen und sich gegen solche Zuschreibungen abzugrenzen. Wo ein Sich-bedroht-Fühlen in der eigenen Identität aufkommt, kann die Gruppe den fehlenden inneren Spielraum vorübergehend ersetzen und einen Übergangsraum herstellen, in dem die verschiedenen Aspekte des Erlebens nebeneinander stehen und Gehör finden können. […] Im Dialog erleben wir uns im Blick des Anderen. Das innerlich beteiligte, von Empathie getragene, aktive Zuhören verändert nicht nur den Erzählenden, sondern auch den Zuhörenden, der seine inneren Bilder von sich selbst und dem Anderen dabei bestätigt oder infrage gestellt sieht. Dialog ist so gesehen eine ständige Arbeit an der eigenen Identität. Wenn er gelingt, erleben die Teilnehmer/innen dabei auch die eigene Wirkmächtigkeit in der Begegnung mit dem Anderen" (S. 268).
Zum gesellschaftlichen Hintergrund der biografischen und familialen Transferprozesse und ihrer Bearbeitung enthält der Band Beiträge der erinnerungspolitisch prominenten Autoren Hannes Heer und Wolfgang Benz. In beiden Artikeln geht es um bis heute weitverbreitete Formen der Verharmlosung und Rechtfertigung der NS-Verbrechen und die fragile Grenze, jenseits derer sie zum Skandal und manchmal auch zum Anlass gerichtlicher Sanktionen oder von Amtsenthebungen wurden. Heer befasst sich dazu unter anderem ausführlich mit den Biografien und Werken von Günter Grass und Martin Walser sowie mit der öffentlichen Diskussion um ihre späten Enthüllungen. Heer wie Benz erwarten für die Zukunft keinen selbstläufigen Rückgang von Antisemitismus und Rechtsradikalität in Deutschland und blicken dementsprechend mit Sorge in die Zukunft. Im impliziten Kontext des hier besprochenen Bandes lässt sich dies als Argument für die Dringlichkeit der Verbreitung der neuen familiengeschichtlichen Herangehensweisen lesen, die vor allem in den Artikeln von Ute Althaus, Ruth Waldeck und Elke Horn veranschaulicht sind.
Der Band basiert auf einer langjährigen und stark nachgefragten Tagungsreihe der evangelischen Akademie Hofgeismar. Die Tagungsinitiatorin Heike Radeck beschließt ihren einleitenden Beitrag mit der folgenden "Zukunftsansage":
""Wenn der Pakt mit den Tätereltern oder Großeltern aufgekündigt ist, dann ist die leidvolle Weitergabe von Generation zu Generation endlich durchbrochen […]. Die Verbrechen sind damit nicht aus der Welt geschafft und auch nicht das Leid, das sie bei den nachfolgenden Generationen ausgelöst haben. Aber sie sind mit dem richtigen Namen benannt und bei den Personen verortet, die sie auch begangen haben" (S. 24).
Diese Rezension erscheint im Juni 2015 in Nr. 140 der Zeitschrift psychosozial (38. Jg., Heft II/2015) www.psychosozial-verlag.de
Dr. Uta Ottmüller ist Psychohistorikerin, Soziologin und Pädagogin.