Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Ein kurzer Film, den Centropa über Erna Goldmann produziert hat, stellt eine einfache Lebensgeschichte aus der Sicht der Protagonistin vor. Sie war eine jüdische Frau aus Frankfurt am Main, deren Lebensweg durch die antisemitischen Verfolgungen des nationalsozialistischen Deutschland geprägt wurde. Ihre Haltung zu ihrer Umwelt war trotz der politischen Umbrüche und Katastrophen, deren Zeugin und Objekt sie war, durchgehend unpolitisch.
Daher erzählt der Film die Geschichte einer unauffälligen Frau im 20. Jahrhundert.
Erst das Wissen um die historischen und politischen Verhältnisse, in denen Erna Goldmann lebte, macht die Dramatik erkennbar, die in diesem Leben steckt. In einem Materialheft (Heft 01) bietet das Pädagogische Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt am Main daher kurze Einführungen zu den wesentlichen Themen, die für das Verständnis der Geschichte Erna Goldmanns nötig sind. Es soll der Erzählung des Films nichts von ihrer persönlichen Kraft nehmen, sondern im Gegenteil das Mitfühlen unterstützen. Die Information über Kontexte und Hintergründe ermöglichen eine Annäherung an die Erfahrungswelt der Erzählenden.
Die einzelnen Kapitel enthalten Vorschläge für die pädagogische Arbeit mit den Materialien und dem Film, die jeweils auf die Erzählung Erna Goldmanns zurückführen sollen. Konkret ist der Vorschlag zur pädagogischen Verwendung des Films sehr einfach. Nachdem die gesamte Lerngruppe den Film gesehen hat, sollen alle zunächst für sich allein ihre Eindrücke und offenen Fragen notieren. Aus diesen Notizen werden im nächsten Schritt die Fragen und Themen der gesamten Lerngruppe formuliert werden. Es schließt sich eine Gruppenarbeit zu den einzelnen Kapiteln des Materialheftes an. Sie soll der Bearbeitung der gesammelten Fragen und Themen dienen. Zu jedem Kapitel gibt es Vorschläge für Arbeitsthemen.
Die Geschichte der Erna Goldmann soll exemplarisch in die Geschichte der Juden in Deutschland zwischen 1920 und 1950 einführen. Die Flucht nach Palästina ist die Besonderheit dieser Geschichte. Eine Besonderheit, die durchaus nicht einmalig ist. Die Protagonistin fand ihre Heimat in Israel, während andere Juden in Deutschland nach 1950 eine neue Heimat fanden. So bietet diese Lebensgeschichte am Ende auch einen Ansatzpunkt für die Erschließung von Wissen über den Neuaufbau jüdischen Lebens in Europa nach 1945.
In allen Facetten ist Erna Goldmanns Lebensgeschichte zunächst von Migration geprägt – obwohl sie aus einer alt eingesessenen Frankfurter Familie kommt. Im Gegensatz zu den in Deutschland oder Frankreich ansässigen „Westjuden“, zählte die Familie ihres verlobten Moshe Goldmann zu den so genannten Ostjuden, die vor allem in Polen, Russland, der heutigen Ukraine und Rumänien lebten. Wegen der Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Osteuropa und den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen, in denen sie lebten, wanderten Ende des 19. Jahrhunderts und in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen viele Ostjuden nach Westeuropa aus. Moshe Goldmann war jedoch schon in Deutschland geboren worden, genauso wie seine drei Schwestern Jenny, Lotte und Malli. Er machte in Frankfurt eine Ausbildung als Gerber, weil er eines Tages die Lederwarenfabrik seines Vaters in Dessau weiterführen sollte. Wenn Moshe seine Eltern in Dessau besuchte, schrieb er Erna Postkarten und Briefe. Moshe war in der Jugendbewegung „Blau-Weiß“ aktiv und wanderte bereits 1934 nach Palästina aus, das damals Britisches Mandatsgebiet war. Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs konnten auch seine Eltern und Schwestern nach Palästina auswandern. Ernas Bruder Karl emigrierte ebenfalls bald nach dem Abschluss seines Medizinstudiums nach Palästina.
Erna Goldmann war zwar Zionistin, aber sie plante keine Auswanderung nach Palästina. Im Jahr 1935 aber wurde ihr aber mitgeteilt, dass sie die Schule nicht mehr besuchen dürfe, weil sie Jüdin sei. Die Lage für die Juden in Deutschland hatte sich seit der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 zugespitzt. Erna Goldmann erinnert sich im Film an die vielen nationalsozialistischen Aufmärsche und Fahnen auf Frankfurts Straßen. 1935 starb ihr Vater an einem Herzinfarkt. Nun drängte Ernas Bruder Karl die Familie, zu ihm nach Palästina zu kommen. Erna und ihre Mutter konnten im Sommer 1937 auswandern. Im Dezember desselben Jahres heiratete Erna in Tel Aviv ihren Freund Moshe, der damals bereits einige Zeit in Palästina lebte.
Der Großvater mütterlicherseits, Michael Rapp, blieb in Frankfurt. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 fand er Zuflucht bei nichtjüdischen Bekannten. Er starb im September 1939. Ernas Bruder Paul, der mittlerweile im niederländischen Delft lebte und arbeitete, konnte vor den Nationalsozialisten nach Kuba fliehen. Nach dem Krieg lebte er mit seiner Familie in Amsterdam.
Die Geschichte dieser Familie macht eine Palette unterschiedlicher Gründe und Dynamiken der Flucht oder auch der gewollten Auswanderung deutlich, ohne jeweils in die Tiefe der Ereignisse zu gehen. So kann im pädagogischen Raum darüber reflektiert werden, wie unterschiedlich die Voraussetzungen des Weggehens und des Ankommens für Exilanten sind. Die Lernenden bleiben nicht beim Mitfühlen stehen, sondern sie fragen sich, was die Pläne und die Zwänge waren, die für diese Menschen bedeutend waren. Von diesen Überlegungen führen viele Assoziationen und auch analytische Fragen zu aktuellen Problemen von Flucht, Exil und Asyl.
Im neuen Heft 3 der Pädagogischen Materialien des Pädagogische Zentrums „Novemberpogrome 1938. 'Was unfassbar schien, ist Wirklichkeit'“, das Dagi Knellessen verfasst hat, wird das Thema Flucht durch einen multiperspektivischen Zugang erschlossen. Die Materialien konzentrieren sich auf die Wochen nach den Novemberpogromen und sind gründlich kontextualisiert. Das ist eine Alternative zu der familiengeschichtlichen Erschließung bei Erna Goldmann. Das Epochenereignis der Pogrome löste eine Fluchtwelle aus, deren Bedingungen ebenso deutlich werden wie Erfahrungen von Flüchtenden. (Erhältlich ab Mai 2015)
[Dieser Text folgt im Wesentlichen dem ersten Kapitel des Heftes Miriam Thulin, Von Frankfurt nach Tel Aviv. Die Geschichte der Erna Goldmann, Pädagogische Materialien 1, Pädagogisches Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums, Frankfurt am Main 2012]