Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Die Bundesrepublik Deutschland verstand sich lange Zeit nicht als Einwanderungsland und erst seit dem Zuwanderungsgesetz 2005 bekennt sich Deutschland offiziell als Zuwanderungsland. Damit hat die Diskussion um Zuwanderungsfragen einen vorläufigen rechtlichen Abschluss gefunden, indes jedoch in ihrer politischen Bedeutung kaum an Aktualität verloren. Die Veränderung der Gesellschaft und Aufgabe der Fiktion eines ethnisch homogenen „deutschen“ Kollektivs wird in der Öffentlichkeit und in politischen Institutionen nur zögernd zur Kenntnis genommen. Soziale Ungleichheit, politischer und rechtlicher Ausschluss und Ressentiments gegen Schwarze Menschen, Menschen mit Migrationsgeschichte und People of Color werden hingenommen und praktiziert. Dabei stellt sich nicht länger die Frage, ob Deutschland eine „multikulturelle“ Gesellschaft sein will, sondern ob sich ein gleichberechtigtes und demokratisches Verständnis durchsetzt und gleiche Rechte gewährt werden.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisierte im August 2003 in einer veröffentlichten Studie, dass in Deutschland bislang keine systematische Dokumentation von Rassismus in all seinen Erscheinungsformen entwickelt wurde und kaum empirische Untersuchungen über Diskriminierungserfahrungen vorliegen. Die Bundesrepublik hat sich zwar nationale Bildungsprogramme wie Xenos, Entimon und Civitas geschaffen. Für eine wirksame Anti-Diskriminierungsarbeit reicht es aber nicht aus, sich auf die Zielgruppe der Jugendlichen zu beschränken. Um eine umfangreiche Beseitigung rassistischer Diskriminierung zu erreichen, müssten vielmehr vor allem öffentliche Institutionen wie Ämter, Gerichte und der Polizeiapparat entsprechende Fortbildungen erhalten und sich mit dem Thema Diskriminierung/Rassismus auseinandersetzen.
Rassismus ist eine Dimension von „Dominanz“ (Birgit Rommelspacher), die wiederum als Charakteristikum moderner Herrschaftsverhältnisse zu kennzeichnen wäre. Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, er trägt sich auf der individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebene. Deshalb muss seine Bekämpfung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden.
Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist seit den Anfängen des Bildungsteams Berlin-Brandenburg e.V. zentraler Bestandteil der Arbeit. In „Peers in the city“ - einem Projekt mit Jugendlichen aus Kreuzberg und Neukölln zum Thema Sexualität und Gender in der Einwanderungsgesellschaft - wurde zudem erstmals Diversity im Team als wichtige Basis für die pädagogische Arbeit formuliert und praktiziert. Das Team setzt sich seither zusammen aus Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte, aus dem DDR- und BRD-Kontext, mit Rassismus-Erfahrung, aber ohne Migrationsgeschichte sowie verschiedenen sozialen Klassenkontexten etc. Die Heterogenität in den Perspektiven und Herkünften bereichert den Austausch untereinander, ermöglicht eine multiperspektivische Herangehensweise und schafft leichtere Zugänge zu den Teilnehmenden.
Die Arbeit mit dem Diversity-Ansatz bedeutet auch Diversität als ein Konzept im Sinne von Organisationsentwicklung zu verstehen. Somit sind die verschiedensten Akteur/innen und Hierachieebenen in dem Konzept mitgedacht. Wir haben in unserer langjährigen Arbeit beim Bildungsteam Berlin-Brandenburg e.V. unsere Konzepte immer wieder nachgebessert und beziehen die gesamte Organisation mit ein. Im Folgenden wird der Schwerpunkt am Beispiel des Projekts „Der Vielfalt gerecht werden“ auf der Skizzierung der Diversityarbeit mit Auszubildenden liegen.
Für die Konzipierung der Diversity-Trainings für ein Rassismus-Modul war es hilfreich, sich an folgenden Arbeitshypothesen nach Staub-Bernasconi zu orientieren.
Die am Diversityprojekt „Der Vielfalt gerecht werden“ teilnehmenden Auszubildenden kommen aus unterschiedlichen Kontexten und Lebenswelten in Brandenburg, West- und Ostberliner Bezirken. Zwar teilen sie mehrheitlich die Erfahrung von Ausgrenzung, so z. B. aufgrund des Wohnumfeldes oder des nicht vorhandenen bzw. „zu niedrigen“ Schulabschlusses. Es sind jedoch insbesondere Jugendliche aus Westberliner Bezirken wie Neukölln oder Kreuzberg, die Rassismus-Erfahrungen machen. Dementsprechend sind zum einen die Privilegien der Jugendlichen, zum anderen die Zugänge zum Themenfeld
Rassismus sehr unterschiedlich und erfordern je nach Gruppe eine differenzierte Herangehensweise. Wir führen das Rassismus-Modul in zwei unterschiedlichen Schwerpunkten durch. Der Fokus liegt bei Westberliner Gruppen stärker auf Empowerment und der Verortung der eigenen Erfahrung und Lebensgeschichte im Kontext der Einwanderungsgeschichte(n) nach Deutschland. Weiterhin wird hier das Spannungsfeld von eigener Rassismuserfahrung und Formen gleichzeitiger Stereotypisierung und Diskriminierung Anderer (Antisemitismus, Antiziganismus, Anti-Kurden...) thematisiert. Bei den Gruppen aus Brandenburg und Ostberliner Bezirken geht es dahingegen mehr darum, eine Sensibilisierung für das Thema zu schaffen und den Raum für andere Perspektiven zu öffnen. Wir erleben oft die Übernahme medialer, negativer Bilder und ein hohes Vorhandensein von Berührungsängsten und stereotypen Vorstellungen. Als „good practice“ hat sich erwiesen, in der Arbeit mit Brandenburger und Ostberliner Gruppen das Rassismus-Modul nicht als Erstes durchzuführen, da hierfür eine bereits vorhandene Vertrauensbasis sehr wichtig ist.
Sie bringen eigene Ausgrenzungs- und/oder Rassismuserfahrungen mit, sind geprägt von medialen Bildern und haben kaum Wissen um Strukturen und Geschichten von Rassismus oder Einwanderungsgeschichte(n). Welche Möglichkeiten bietet das Modul Rassismus, Perspektiven zu erweitern, persönliche Geschichten zu kontextualisieren und Räume für Fragen, Austausch und Empowerment zu schaffen? Welche Bilder und Erfahrungen bringen die Jugendlichen mit und welche Herangehensweisen ergeben sich durch ihre unterschiedlichen Lebenswelten in der Seminararbeit?
Ziel in allen Gruppen ist es, einen Raum zu schaffen, in dem jede Frage möglich ist, Selbstverständlichkeiten hinterfragt und gemeinsam Antworten gesucht werden. Ziel ist es weiterhin, zu vermitteln, was Rassismus ist, z. B. im Unterschied zu Diskriminierung, welche Geschichte Rassismus hat und welche Gründe es für Wanderung geben kann. Das Modul versucht, die Vielschichtigkeit von Perspektiven, Situationen und (Lebens-)Geschichten deutlich zu machen. Brandenburger und Berliner Jugendliche wählen das Rassismus-Modul gleichermaßen am Häufigsten. Als besonders „attraktiv“ wird hier sicher die Exkursion gewertet, die Teil des Moduls ist. Die Motivationen, warum Jugendliche das Modul wählen, sind dagegen unterschiedlich. Dies kann Neugier (z.B. erzeugt durch die mediale Berichterstattung), Engagement gegen Rassismus oder der Wunsch, die eigene Situation reflektieren zu wollen, sein.
Dadurch, dass unsere Gesellschaft von struktureller Ungleichheit und verschiedenen Machtachsen durchzogen ist, werden Menschen in ihren Ressourcen und der Teilhabe und Inanspruchnahme ihrer Rechte beschnitten. Empowerment als besondere Form politischer Bildung ist die Herausbildung und Weiterentwicklung aktiver Bürgerschaft, Partizipation und politischer Mündigkeit und der kritischen Auseinandersetzung mit Gesellschaft. Damit Gesellschaftskritik nicht abstrakt bleibt, ist es wichtig, sie in Bezüge zu setzen und zu konkretisieren. In unserer Arbeit nutzen wir interaktive und biographische Methoden, sowie die Möglichkeit, durch Exkursionen „Geschichte(n) vor Ort“ zu erleben. Im Rassismus-Modul führt die Exkursion für alle Gruppen nach Berlin-Kreuzberg, allerdings mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. So besuchen z. B. Gruppen aus Neukölln und Kreuzberg das Kreuzbergmuseum mit seinem Fokus auf Einwanderungsgeschichte, Brandenburger Gruppen dagegen eine Moschee. Im Rassismus-Modul ist insbesondere die Namensrunde am Anfang des Seminars von Bedeutung. Was für Jugendliche mit deutschen Namen eine Selbstverständlichkeit ist, ist für Jugendliche mit türkischen, kurdischen, arabischen... Namen im Schulkontext oft das erste Mal: Als Teamer/innen legen wir Wert darauf, dass nicht nur alle sich vorstellen, sondern auch erzählen, was ihre Namen bedeuten und vor allem darauf, dass alle sich bemühen, die Namen richtig auszusprechen. Wir versuchen, von Anfang an einen respektvollen Raum zu schaffen, in dem Jugendliche sich wohlfühlen, sich öffnen können und sich trauen, Fragen zu stellen.
Die Jugendlichen aus Brandenburg sind oftmals wenig mobil, kommen aus ländlichen Regionen und sind an ein fast ausschließlich weiß-deutsches Straßenbild gewöhnt. Kreuzberg kennen sie aus den Medien und wird von ihnen eher als Angstraum und „No Go“ wahrgenommen. Gleichzeitig finden sie es aber auch spannend und haben Lust, etwas Neues kennenzulernen. Eine Exkursion ist eine gute Möglichkeit, sich im geschützten Rahmen dort zu bewegen, wo sie sich sonst niemals bewegen würden. In der Auswertung der Exkursion wird zum einen die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten deutlich, indem Jugendliche Kreuzberg als „zu laut“ oder „zu voll“ beschreiben. Sie finden aber auch Gelegenheit, ihre bisherigen Bilder zu korrigieren, indem sie z.B. erleben, dass Moscheen ähnlich wie Kirchen hauptsächlich von Senioren besucht werden, oder indem sie die Vielfalt auf den Straßen wahrnehmen können. So finden dann auch viele Jugendliche Kreuzberg „cool“ und einige äußern sogar, später einmal dort wohnen zu wollen. Den unterschiedlichen Methoden gemeinsam ist das Ziel, über niedrigschwellige Zugänge die Perspektiven zu erweitern, Austausch zu ermöglichen, die eigene Position zu reflektieren und Verständnis für die Situationen und Geschichten Anderer zu schaffen. Beispielsweise wird mit Brandenburger Jugendlichen anhand einer USA-Karte mit deutschen Städtenamen die Migration von Deutschen in die USA thematisiert und diskutiert, was Gründe für Wanderungen sein könnten. Die Gruppen erfahren so, dass Wanderung nicht nur „von außen“ nach Deutschland stattfindet, und das der Grund nicht nur politische Verfolgung, sondern auch Armut sein kann, wie in dem Beispiel der deutschen Wanderung in die USA. Jugendliche mit Rassismus-Erfahrung bekommen die Möglichkeit, mit anderen, die ihre Erfahrungen teilen, zu diskutieren, welche Exklusionen es gibt und z. B. das Verbot von Kopftuch im Job zu besprechen. Anhand des Films „Alemanya“ erleben sie die Unterschiedlichkeit in den Generationen (Eltern/Kinder), die Heterogentiät in den Positionen und das „Kultur“ nichts Statisches ist.
In den drei Seminartagen bekommen Jugendliche Einblicke in die Komplexität des Themenfeldes Rassismus, sie lernen, was Stereotype sind und dass diese hinterfragt werden können/müssen. Sie erfahren etwas über die Geschichte von Rassismus und über die Gründe von Migration, sie lernen, eigene Erfahrungen zu kontextualisieren und ihre Perspektiven zu erweitern. Die Arbeit mit dem Rassismus-Modul zeigt, wie komplex das Thema ist und dass es überaus sinnvoll ist, die Herangehensweisen entlang der spezifischen Kontexte und Bedarfe von Jugendlichen zu konzipieren. Mehr als bei anderen Modulen gilt es hier, dass ein einheitlicher Seminarplan für alle Gruppen nicht gut funktionieren kann, da die Zugänge zum Thema zu unterschiedlich sind.
Benbrahim, Karima (Hg.): Diversität bewusst wahrnehmen und mitdenken, aber wie? Herausgegeben im Auftrag des IDA e. V., ISSN 1616-6027, Düsseldorf: Eigenverlag 2012.
Kiesel, Doron: Multikulti ade? Chancen und Sackgassen interkultureller Pädagogik, in Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hg.): Perspektivwechsel. Theorie, Praxis, Reflexionen, Frankfurt a. M. 2009.
Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1995.
Staub-Bernasconi, Silvia: Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft, Mainz 2007.