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Rassistisch motivierte Gewalt gegen Romnija und Roma erreicht in Europa immer besorgniserregendere Ausmaße. So dokumentiert beispielsweise ein im April dieses Jahres erschienener Bericht von Amnesty International anhand der EU-Länder Griechenland, Tschechien und Frankreich nicht nur die systematische Diskriminierung von Romnija und Roma, sondern verurteilt darüber hinaus die Passivität der jeweiligen Regierungen. Anstatt Anfeindungen entschieden entgegenzutreten, machten Politikerinnen und Politiker häufig Romnija und Roma selbst für ihre Marginalisierung verantwortlich und heizten so die Gewaltbereitschaft weiter an, heißt es in dem Report. Eine ebenfalls in diesem Frühjahr veröffentlichte Studie des Pew Research Center zeigt, dass in den untersuchten sieben europäischen Ländern, darunter Deutschland, Romnija und Roma jene Minderheit darstellen, der am meisten Ablehnung entgegengebracht wird.
Für die spezifische Form von Rassismus, von der (nicht nur) Romnija und Roma betroffen sind, ist in den letzten Jahren, wenn auch nicht unumstritten, der Begriff „Antiziganismus“ immer gebräuchlicher geworden. Antiziganismus bezeichnet eine weit verbreitete und tief verankerte Vorurteilsstruktur aufgrund derer als „Zigeuner“ wahrgenommene Menschen stigmatisiert, diskriminiert und verfolgt werden. Diese Vorurteilsstruktur bezieht sich auf die kulturell vermittelten Bilder und Stereotypen von „Zigeunern“, die in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschend sind. Mit der Lebensrealität der so fremdbezeichneten Menschen haben diese Bilder wenig oder nichts zu tun. Die tiefere Ursache von Antiziganismus liegt hingegen in den sozialen Normen und Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft. Dieser Vorstellung nach bewegen sich „Zigeuner“ außerhalb der Ordnung von Nationalstaat und Arbeitsgesellschaft. Nach dieser Ordnung tabuisierte Verhaltensweisen werden auf das Stereotyp des ‚Zigeuners’ übertragen, das Ablehnung ebenso wie Romantisierung hervorruft. Die jeweils herrschenden politischen und sozialen Rahmenbedingungen beeinflussen die Ausprägung von Antiziganismus - aktuell wird etwa die globale Wirtschafts- und Finanzkrise häufig mit dem Anstieg von Antiziganismus in Zusammenhang gebracht.
Die zunehmende Verschärfung der Situation wirft die Frage auf, wie mit antiziganistischen Tendenzen umgegangen werden kann. Im folgenden soll eine bemerkenswerte Initiative vorgestellt werden, für deren Ansatz Vergangenheitsbewältigung einen Schlüsselaspekt darstellt.
Rund um den 2. August, an dem vor 70 Jahren die in Auschwitz-Birkenau verbliebenen 2900 Romnija und Roma ermordet wurden, organisierte das Internationale Roma Jugendnetzwerk ternYpe eine mehrtägige Jugendveranstaltung in Krakau. Im Rahmen der Roma Genocide Remembrance Initiative fanden eine Vielzahl an Workshops, Diskussionen, Gesprächen mit Überlebenden, eine Expertenkonferenz und eine Gedenkfeier am Gelände des ehemaligen 'Zigeunerlagers' in Birkenau statt. Über tausend junge Menschen kamen aus ganz Europa, um teilzunehmen.
„70 Jahre sind seit den tragischen Ereignissen am 2. August vergangen, dennoch sind Roma weiterhin täglich mit Gewalttaten, Verfolgung und Entmenschlichung konfrontiert. Durch die Weigerung, die Vergangenheit anzuerkennen und zu verurteilen, erlauben wir das Auftreten einer ähnlichen Rhetorik. Aus diesem Grund setzt sich ternYpe für die offizielle Anerkennung des Genozids an den Roma ein“, erklärt Karolina Mirga, Generalsekretärin von ternYpe. Immer noch wird der Völkermord an den Romnija und Roma manchmal als „vergessener Holocaust“ bezeichnet. Im Laufe der Workshops und Diskussionen erzählen Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder, dass sie im Geschichtsunterricht kaum etwas darüber gelernt haben, dass in ihren Lehrbüchern der Geschichte von Romnija und Roma nur wenig Platz eingeräumt wurde. Die Absicht von ternYpe ist es, diesen blinden Fleck in den Fokus zu nehmen und die Perspektiven von Romnija und Roma in der europäischen Geschichtsschreibung und -vermittlung zu verankern. Indem sich junge Romnija und Roma aktiv zu ihrer Geschichte in Bezug setzen, strebt die Roma Genocide Remembrance Initiative außerdem ein Moment der Selbstermächtigung an. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Genozids soll darüber hinaus die Wahrnehmung schärfen, um Kontinuitäten rassistischer Strukturen zu erkennen und die Notwendigkeit zu Handeln zu verdeutlichen.
Wie fehlende Anerkennung des Genozids an Romnija und Roma mit gegenwärtigem Antiziganismus einhergeht, zeigt das Beispiel, von dem Miroslav Brož, Aktivist der tschechischen Bürgerinitiative Konexe, in einer Podiumsdiskussion erzählt. Im tschechischen Örtchen Lety errichtete die kommunistische Regierung in den 70er Jahren auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers eine industrielle Schweinefarm, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde sie an private Betreiber verkauft. Seitdem die Geschichte des Ortes 1994 an die Öffentlichkeit gebracht wurde, konnte sich keine Regierung dazu entschließen, das Land zu kaufen, die Farm zu schließen und eine würdige Gedenkstätte darauf zu errichten. Die Befürchtung, im Falle eines derartigen Engagements bei den nächsten Wahlen dafür abgestraft zu werden, sei zu groß, meint Brož. Immer wieder jedoch, vornehmlich zu Wahlkampfzeiten, wurde die Situation in Politik und Medien hitzig diskutiert. Nicht nur Politikerinnen und Politiker der extremen Rechten nützten dies, um antiziganistische Ressentiments zu befeuern. 2005 etwa stellte der damalige Präsident Václav Klaus infrage, ob es sich bei dem Lager in Lety tatsächlich um ein Konzentrationslager gehandelt habe. Vielmehr sei es ein „Arbeitslager“ für jene gewesen, die „sich weigerten zu arbeiten“. Er benützte in seinen Äußerungen nicht nur Begriffe und Kategorien, die im Nationalsozialismus geprägt wurden, sondern schloss damit auch an aktuelle stereotype Vorurteile gegenüber Romnija und Roma an. Obwohl offiziell als Konzentrationslager anerkannt, führt die konkrete Situation in Lety dazu, dass die dort verübten Verbrechen immer wieder relativiert werden. Auch dieses Jahr wieder fielen anlässlich des Gedenkens am 2. August ähnliche Aussagen wie die von Václav Klaus, diesmal vorgebracht von dem Senatsabgeordneten Tomio Okamura.
Angesichts der verfahrenen Situation entschieden die Aktivistinnen und Aktivisten von Konexe, ihre Aktivitäten auf die internationale Ebene zu konzentrieren, um Druck gegen die tschechische Regierung aufzubauen.
Die Roma Genocide Remembrance Initiative versucht, zunehmenden Antiziganismus in seiner Kontinuität zu verstehen. Welche Wege die Teilnehmerinnen und Teilnehmer finden werden, mit den gewonnenen Einsichten und Erlebnissen umzugehen, wird sich zeigen. Martin, der als Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft teilgenommen hat, meint im Hinblick auf seine Verwandtschaft: „Es ist nicht so, dass sie plötzlich eine andere Meinung haben, aber wenn ich erzähle, wie hier miteinander umgegangen wird, wie familiär, dann beginnt ein Prozess.“
Amnesty International: „We ask for Justice“. Europe's failure to protect Roma from racist violence.
Pew Research Center: A Fragile Rebound for EU Image on Eve of European Parliament Elections.
Markus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel (Hg.): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments.
Council of Europe: Right to Remember. A Handbook for Education with Young People on the Roma Genocide.