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Jugend war zu vielen Zeiten eine Phase des Sturm und Drang, die sich gegen Autoritäten und überkommene Traditionen richtete. Die Suche nach dem eigenen Ich und der Wunsch nach Unabhängigkeit von Elternhaus und Schule drückten sich in rebellierender Musik, ungewohnten Moden und alternativen Lebensformen aus. Dass dabei oft die Wert- und Zukunftsvorstellungen von Jung und Alt aufeinanderprallten, hat politische Konflikte zwischen den Generationen ausgelöst.
In der DDR ist eine angepasste Jugend, die sich für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft einsetzte und dies durch die Ablehnung westlicher Musik- und Modeeinflüsse oder die Abkehr von der Konfirmation auch äußerlich zur Schau stellte, stets ein Wunschbild des Staates gewesen. Im Vergleich zu den 68ern in der Bundesrepublik blieb eine Generationenrevolte in der DDR zwar weitgehend aus. Dennoch wandte sich eine wachsende Minderheit trotz harter Repressionen gegen den weltanschaulichen Totalitätsanspruch der SED. So versammelten sich unter dem Dach der evangelischen Kirche in den Jungen Gemeinden Wehrdienstverweigerer, Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsakteur/innen, deren Engagement die Entstehung einer Bürgerrechtsbewegung und damit die Entwicklung der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 entscheidend vorangetrieben hat.
Bereits kleine Signale der Abweichung wurden in der DDR als gefährlich für das Projekt des Sozialismus eingestuft. Zu verdächtigen Gesten gehörte das heute harmlos erscheinende Tragen von Jeans und langen Haaren, die in den 1960er Jahren als Ausdruck der aus den USA und England kommenden Beat-Bewegung galten. Die ca. 1000 aktive Mitglieder zählende Punkszene der DDR in den frühen 1980er Jahren ist ein Beispiel dafür, wie Jugendliche mit einer nicht akzeptierten Lebenshaltung politisiert wurden. Viele Punks fanden erst zur Opposition, nachdem ihnen die Irokesenfrisuren abrasiert worden waren, sie gewalttätige Hausdurchsuchungen erlebt hatten oder sie durch Freiheitsentzug drangsaliert worden waren. Die Jugendszene offenbarte, dass die Vorgabe einer homogenen sozialistischen Gesellschaft nicht erfüllt war, sondern dass es vielfältige Subkulturen gab.
Die Behörden beobachteten nonkonformes Verhalten und die Entwicklung alternativer Kulturen abseits der staatlichen Strukturen daher mit großem Misstrauen. Selbst Jugendliche, die sich als unpolitisch bezeichneten und lediglich einen alternativen Lebensstil pflegten, verhielten sich, wie es im Duktus von Partei und Staatssicherheit ausgedrückt wurde, „gesellschaftswidrig“. Aufgrund ihres so genannten „negativ-dekadenten Verhaltens“ wurden sie zu „Feinden der sozialistischen Ordnung“ erklärt. Es gab kein Verständnis dafür, dass lange Haare, Irokesenschnitt, Parka, Lederjacke und "Jesuslatschen" oftmals schlicht das Bedürfnis nach Individualität in einer entdifferenzierten Gesellschaft ausdrückten. Kleidung und Verhalten wurden daher häufig zum Politikum, ohne dass tatsächlich eine politische Absicht hinter dem äußeren Erscheinungsbild stand.
Das Beispiel des Jenaer Open-Air-Frühstücks im Sommer 1986 auf dem zentralen Platz der Kosmonauten steht dafür, wie eine selbstbestimmte Gestaltung des alltäglichen Lebens in allen Belangen unterdrückt wurde.
Viele der Teilnehmer/innen entstammten dem Milieu der Tramper und "Kunden", die lange Haare trugen und in ihrer Freizeit zum Beispiel per Anhalter zu alternativen Konzerten in der ganzen DDR fuhren. Die Organisatoren lebten in Wohngemeinschaften, von denen eine sich nach der Besetzung eines abrissgefährdeten Hauses gegründet hatte.
Gedacht war das Frühstück als spontane gemeinsame Aktion in der Öffentlichkeit. Man aß und trank gemeinsam und unterhielt sich. Ein Mitglied der Jenaer Band "airtramp" spielte. Schon nach einer Viertelstunde griff die Volkspolizei ein, vernahm die Beteiligten und löste die Veranstaltung auf. Wegen einer vermeintlichen "Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" mussten teilweise hohe Geldstrafen bezahlt werden. Die unangenehmere Konsequenz war, dass Einigen die Personalausweise entzogen und sogenannte "PM12"-Ersatzausweise ausgehändigt wurden. Dieses Dokument erhielten normalerweise aus der Haft entlassene Kriminelle. Es sorgte für Diskriminierungen im Alltag, zum Beispiel für die Eintrittsverweigerung zu öffentlichen Einrichtungen und für erhebliche Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit.
Auskunft über die Selbst- und Fremdwahrnehmung von unangepassten DDR-Jugendlichen in Familie und Schule, im Freundeskreis und durch die staatlichen Behörden geben Quellen aus unterschiedlichen Perspektiven. Das sind zum einen Schul- oder Arbeitszeugnisse oder Stasi-und Prozessakten, die über diese Jugendlichen angelegt wurden und die das Handeln von Staatssicherheit und Partei dokumentieren. Eine Art Gegenüberlieferung und Ergänzung stellen dagegen Selbstzeugnisse dar, die unangepasste Jugendliche von sich aus geschrieben, gemalt, fotografiert oder aufgenommen haben. Sie geben Aufschluss, wie sie ihr Leben und ihr Umfeld wahrgenommen haben und welche Zukunftserwartungen und Weltbilder für sie handlungsleitend waren. Dabei sind die Zensurbedingungen und drohenden Repressionen immer mit zu bedenken, unter denen diese Quellen damals verfasst wurden.
Im Fall des Jenaer Open-Air-Frühstücks sind nicht nur die Berichte der Staatssicherheit und der Volkspolizei überliefert, die die Ereignisse des Frühstücks am 12. Juli 1986 dokumentierten, sondern auch Gedächtnisprotokolle und Berichte beteiligter Jugendlicher. Diese Quellen ermöglichen einen multiperspektivischen, differenzierten Zugang zu den Jenaer Ereignissen.
Ähnliche "Selbstzeugnisse" unangepasster junger Menschen werden heute in den drei deutschen Spezialarchiven zu Opposition, Widerstand und Zivilcourage in der DDR gesammelt, dem Robert-Havemann-Archiv (Berlin), dem Archiv Bürgerbewegung (Leipzig) und dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte "Matthias Domaschk" (Jena).
Wer ins Archiv geht, wird dabei auf komplexe Beziehungsgeschichten stoßen. Sie verweisen auf die Wechselwirkungen von Herrschaftsanspruch und Alltagserfahrung, von Anpassungsdruck und Renitenz. Unangepasste Jugendliche waren eine heterogene Gruppe, die sich in der Ablehnung des SED-Systems zusammengehörig fühlten, in der es aber auch interne Bedürfnisse nach Abgrenzung gab. Ihre Lebenswege resultierten nicht nur aus den Konflikten mit den Vertretern des Staates, sondern auch aus dem Verhältnis zu den mehrheitlich konformistischen Altersgefährt/innen, die sich aus unterschiedlichen Motiven mit dem Staat arrangierten.
Das Thema hat viele Parallelen in der Gegenwart. Im privaten Umfeld werden Jugendliche heute mit den oft widersprüchlichen, zum Teil verklärenden Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern an die DDR konfrontiert. Wer in der DDR als Jugendliche/r anders dachte und anders handelte als es der sozialistische Staat vorgab, ist heute mindestens 40 Jahre alt. Die unangepasste Jugend ist Teil einer Lebensgeschichte geworden, die mit den gesellschaftlichen Umständen vor und nach 1989 verknüpft ist. Auch in einer individualisierten und am Erfolg orientierten westlichen Gesellschaft wird die Duldung und Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen immer wieder auf die Probe gestellt. Als besonders brisant für die Selbstbestimmung des Einzelnen und die Demokratie gelten aktuell die Verfügbarkeit digitaler Daten und die flächendeckende Überwachung des Internets, die die Sinne für die historischen Erfahrungen aus der DDR-Geschichte noch einmal geschärft haben.
Literatur:
Links und Materialien: