Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Im Januar und Februar 2015 kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Künstlerinnen und Künstler aus Mitteleuropa, Skandinavien, Ost- und Südosteuropa nach Berlin. Sie erarbeiten einen Stücktext und eine darstellerische Form, um historische Phänomene und aktuelle Bezüge im Umgang mit Sinti und Roma als Dokumentartheater auf die Bühne zu bringen. Die deutschsprachige Uraufführung ist am 20. Februar 2015 im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem. Danach wird im März 2015 eine englischsprachige Fassung in verschiedenen Ländern Europas gezeigt.
In der Zwischenkriegszeit gab es zahlreiche internationale Wissenschaftskongresse mit Anthropologen, Eugenikern und Rassenforschern. In ganz Europa war man gut vernetzt, die anthropologischen Untersuchungen von Minderheiten – von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma oder Sami – waren ein anerkanntes und lukratives Forschungsgebiet, Teil der Wissenschaftskommunikation. Die biologistische Denkweise der Rassenforschung erstreckte sich auch auf die Kategorisierung von sogenannten Behinderten, Erbkranken und anderen „Gefährdungen der Rassenhygiene“.
Das fiktive wissenschaftliche Symposion zeigt ein mögliches Treffen europäischer Wissenschaftler in Berlin im Herbst 1941, als halb Europa unter deutscher Herrschaft oder im nationalsozialistischen Einflussbereich war. Im Sommer 1941 hatte mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion der planmäßig entgrenzte Massenmord begonnen. Nun wurde aus Klassifizierung und Segregation ein Genozid. Rassenbiologische Gutachten führten zu Deportation und Ermordung, die Einsatzgruppen erschossen zu hunderttausenden „rassisch minderwertige Elemente“, in deutschen und kroatischen Konzentrationslagern wurden Roma zu zehntausenden getötet, aus Dahlem wurden zu Forschungszwecken Augen von in Auschwitz ermordeten Sinti angefordert.
Es kommen somit bei diesem fiktiven Symposion nicht nur Wissenschaftler zusammen, die dem Völkermord zuarbeiteten, sondern auch „Praktiker des Todes“, die die Pläne in die Tat umsetzten. Es trifft sich eine Gruppe von Menschen und bespricht den Mord an Millionen anderer Menschen: Es sind keine Ideen, sondern immer Menschen, die andere Menschen umbringen oder umbringen lassen. Die Historikerinnen und Historiker erforschen ihre Biografien. Sie sind immer sie selbst, sie schlüpfen nie in die Rolle von Rassenbiologen und Tätern. Figuren und Reden werden mehrfach gebrochen, die Geschichte in die Gegenwart transportiert.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden nicht mit einem isolierten Text konfrontiert, sondern mit einer aufwändig recherchierten Auswahl von Quellen. Deren Dimensionen und Implikationen entfalten sich erst im Dialog mit anderen Äußerungen aus dem wissenschaftlich-politischen Umfeld der „Zigeuner“-Forschung oder „Zigeuner“-Politik.
Das interaktive Montageprinzip des Dokumentartheaters kommt bei diesem Projekt stärker zum Ausdruck als in den beiden Vorgängerprojekten zur Wannsee-Konferenz (Uraufführung 2012) und zur Hungerplan-Konferenz (Uraufführung 2014): Hier werden nicht nur öffentliche Reden gehalten, hier werden diese Reden auch immer gleich unterbrochen, konterkariert, reflektiert. Die Situation wird so aufgelöst und geöffnet, dass die abschließende Diskussion mit dem Publikum zum integralen Bestandteil der Vorstellung wird.
Die Kooperation zwischen dem Historikerlabor und Partnerinstitutionen in Schweden (Folkkulturcentrum), Frankreich (Maison d’Izieu), Österreich (Theater Nestroyhof – Hamakom), Kroatien (Theater Oberon) und der Ukraine (Teatr Romans) ist inhaltlich durch die thematische Relevanz der Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung in diesen Ländern bestimmt. Nur in Zusammenarbeit mit den Partnern und den Forschungen in ihren Ländern kann die europäische Dimension von Wissenschaft und Völkermord herausgearbeitet und die Binnenperspektive der beteiligten Länder auf ihre eigene geschichtliche Verantwortung im Bezug auf Sinti und Roma adäquat berücksichtigt werden.
Es wurden Partner ausgewählt, deren Institutionen und Örtlichkeiten eng mit der Thematik des Projekts verbunden sind. So wird die Premiere in Berlin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte stattfinden. Im Kaiser-Wilhelm-Institut, der Vorgängerinstitution des Max-Planck-Instituts, ist Rassenforschung im großen Stil betrieben worden. In seinem Selbstverständnis und mit seiner modernen Architektur ist das Max-Planck-Institut der ideale Ort für den Auftakt einer kritischen Reflexion der Wechselwirkung von deutscher Denktradition und internationaler Wissenschaft.
Durch die Auswahl und Entsendung eines Historiker-Darstellers nach Berlin sind alle Partner von Anfang an Teil des Projekts. Die zu erarbeitende Aufführung integriert historische Forschungen zur Rassenbiologie und zur Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma in allen beteiligten Ländern und stellt die europäische Dimension dieser Thematik heraus. Jeder Partner organisiert die in seinem Land stattfindenden Aufführungen und bewirbt und kommuniziert diese vor Ort. Das Projekt kann so auf gewachsene Publikumsstrukturen zurückgreifen und trägt gleichzeitig durch seine spezifische Form zwischen Kunst und Wissenschaft zu deren Erweiterung bei.
Begleitet werden die Vorstellungen von wissenschaftlichen Vorträgen, die in der Verantwortung der Kooperationspartner liegen. Das ausführliche Programmheft – mit den zehn Biographien und der vollständigen Textfassung – erscheint auf englisch und in einer Kurzfassung auf französisch, schwedisch, kroatisch und ukrainisch. Die Inszenierung wird verfilmt und als DVD veröffentlicht. Ihre öffentliche Präsentation auch über die Spielorte hinaus ist ein weiterer Baustein der längerfristigen Zusammenarbeit, die sich grundsätzlich aus der Erkenntnis speist, dass die Gewaltgeschichte in Europa nur über Landesgrenzen hinaus behandelt und dargestellt werden kann – und fortgesetzt werden sollte. Der transdisziplinäre Ansatz des Historikerlabors bietet hierfür eine innovative Matrix.
ist ein in Berlin als Verein eingetragener Zusammenschluss von Historikerinnen und Historikern, Theaterschaffenden, Pädagoginnen und Pädagogen und weiteren an der Vermittlung von Geschichte Interessierten. Sein Ziel ist es, ausgewählte historische Phänomene zu erforschen und künstlerisch umzusetzen. Das Historikerlabor hat die Formen und Arbeitsweisen des klassischen Dokumentartheaters weiterentwickelt und verfeinert, um einen wirklichen Prozess künstlerischer Forschung zu ermöglichen. Im Moment der Aufführung kann das Publikum Denkweisen und Aktionen historischer Figuren direkt erleben, somit als Zeugin und Zeuge fungieren. Die Arbeitsweise des Historikerlabors ermöglicht, geschichtliche Zusammenhänge einem breiten Publikum niedrigschwellig, zugleich aber auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau zugänglich zu machen.
Eine organisatorische Besonderheit liegt in der Wahl des jeweiligen Berliner Kooperationspartners. Mit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, dem Deutsch-Russischen Museum und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte gewann das Historikerlabor außergewöhnliche Spielstätten. Am historischen Ort der Wannsee-Konferenz erzählte das Historikerlabor auf seine Art von der Verfolgung und Ermordung der Juden Europas; am historischen Ort der deutschen Kapitulation, dem Ende des 2.Weltkriegs in Europa, zeigte es die Vorbereitungen des Vernichtungskrieges. Mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte ist ein optimaler Ort gefunden für die lebendige Auseinandersetzung mit rassistischem Gedankengut bis in unsere Gegenwart hinein.