Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Gleich zu Beginn des Jahres 2014 sorgte eine Forsa-Umfrage zum Ersten Weltkrieg für mediale Aufmerksamkeit. Auf die Frage »Interessieren Sie sich für den Ersten Weltkrieg?« hatten 69 Prozent ihr Interesse bekundet, unter den Jüngeren zwischen 14 und 29 Jahren fiel dieser Wert mit 77 Prozent sogar noch höher aus. Ein überraschendes Ergebnis wenn man bedenkt, dass Geschichte normalerweise nicht zu den Themen zählt, die junge Leute besonders elektrisieren, zumal sich der Krieg vor 100 Jahren nur schwer mit ihrer heutigen Lebenswelt in Verbindung bringen lassen. Wie ist dieses Interesse zu erklären? Darüber gibt die Umfrage keine Auskunft. Möglicherweise ist es Neugier auf das weniger Bekannte, denn in Deutschland ist die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg durch die Monstrosität des Zweiten Weltkriegs und den Holocaust deutlich in den Hintergrund getreten. Und: Die Schauplätze des Ersten Weltkrieges und damit die heutigen Gedenkorte liegen nicht in Deutschland, sondern beispielsweise in Frankreich oder Belgien. Der ‚Grande Guerre’ ist dort in Form von Gräbern, Gedenkorten, Monumenten und Gedenktagen sehr viel präsenter. Auch im Unterricht und in den Schulbüchern hat der »Große Krieg« in Frankreich oder Großbritannien einen größeren Stellenwert als in Deutschland, für die jungen Leute dort ist er selbstverständlicher Teil ihres Geschichtsbewusstseins.
Das signifikante Bedürfnis der jungen Leute in Deutschland, mehr über den Ersten Weltkrieg zu erfahren, sollte die historisch-politische Bildung anspornen, Angebote zu machen. Sie muss allerdings die Frage beantworten, was die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg leisten soll, zu welchen Einsichten und Schlussfolgerungen sie führen kann. Wenn man gegenwärtigen die Debatten um die Kriegsschuldfrage im Gefolge der Studie von Christopher Clark zu den »Schlafwandlern« oder auch Herfried Münklers Analyse des ‚Großen Krieges’ betrachtet könnte man meinen, die Aufgabe bestünde darin, politikgeschichtliches Wissen zur Beurteilung der komplexen Schuldfrage an junge Leute zu vermitteln. Das mag durchaus seine Berechtigung haben, wird allerdings schnell an Grenzen stoßen. Denn Fragen politischer Verantwortung von Staaten und komplexe Modelle ihrer jeweiligen Handlungslogik lassen sich nur sehr schwer auf eine Weise vermitteln, die junge Leute in den Stand versetzt, daraus für sich persönlich zu lernen, eigene Haltungen und Einstellungen zu überprüfen und zu ändern.
Sicher: Das Wissen darüber, wie die ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ entstanden ist, welche Rolle Nationalismus und Chauvinismus dabei spielten, was es bedeutete, dass auf dem europäischen Kontinent am Ende das Osmanische Reich, die Habsburger k.u.k. Monarchie, das russische Zarenreich und das Deutsche Reich untergingen und aus der Asche Europas bereits der nächste Funken für einen weiteren Weltkrieg geschlagen wurde – dieses Wissen ist wichtig. Die besonderen Chancen für eine europäische Bildungsarbeit zum Ersten Weltkrieg liegen aber woanders. Sie zeigen sich dann, wenn man die nationale Brille in Augenschein nimmt, durch die der Krieg in den Schulen, in der Öffentlichkeit, den Medien und auch in den Familien in der Regel betrachtet wird. Dieser nationale ‚Tunnelblick‘ ist quer durch Europa noch immer der Vorherrschende. Wer Beispiele dafür sucht braucht nur die Debatten in England oder auch in Serbien zu verfolgen, die Christopher Clarks Buch über die Kriegsschuld ausgelöst hat. In Kategorien wie Schuldige und Unschuldige, Täter und Opfer, Sieger und Besiegte wird in der jeweiligen nationalen Perspektive die ‚eigene Geschichte’ derjenigen der ‚Anderen’ gegenüber gestellt, werden Heroisierung oder Viktimisierung und nationale Sinnstiftung betrieben.
Es wäre falsch zu meinen, dass die überfallenen Länder im Ersten Weltkrieg nicht hinreichend Grund gehabt hätten, ihre Opfer zu beklagen und den Sieg über die Angreifer zu feiern. Aber mit Blick auf Europa 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ist es nicht nur wünschenswert, sondern im Sinne einer europäischen Friedens- und Menschenrechtserziehung auch notwendig, aus diesen rein nationalen Geschichtserzählungen auszusteigen und in einen Dialog unterschiedlicher Perspektiven auf die gemeinsame Gewaltgeschichte einzutreten. Wenn es gelingt, Empathie zu zeigen mit der Sichtweise des Anderen, sich-hinein-zu-Denken-in-das-Gegenüber wäre dafür ein wichtiger Schritt getan. Für junge Leute – und nicht nur für sie – bedeutet dies eine sehr wichtige Erfahrung: dass es nicht nur die eine, die eigene nationale ‚Wahrheit’ der Geschichte gibt, sondern mehrere Fassungen der Geschichte und ihrer Erinnerungen. Aleida Assmann hat in ihrem jüngsten Buch die Chancen eines dialogischen Erinnerns für Europa herausgearbeitet. Dialogisches Erinnern meint, die Geschichte aus der Perspektive der Anderen zu hören, zu verstehen und als Ergänzung der eigenen Erzählweise zu begreifen. Ziel ist dabei ausdrücklich nicht, die Unterschiede zu nivellieren und ein einheitliches Geschichtsbild für Europa, eine Art Masternarrativ, zu entwickeln. Sondern es geht darum, verschiedene Erzählungen zuzulassen und miteinander in Beziehung zu setzen, um auf der Basis von Akzeptanz und Anerkennung mehr übereinander und über Europa zu lernen.
Dass es gelingen kann, sich die unterschiedlichen historischen Erfahrungen in Europa so zu erzählen, dass sie gleichberechtigt neben einander stehen und darüber ein Dialog möglich wird, zeigen die Erfahrungen in dem zivilgesellschaftlichen europäischen Geschichtsnetzwerk EUSTORY, das vor mehr als zehn Jahren von der Körber-Stiftung ins Leben gerufen wurde. In Jugendbegegnungen haben Hunderte junger geschichtsinteressierter Europäer/innen diesen Dialog der Erinnerungen seither geführt. 100 Jahre Erster Weltkrieg sind erneut eine guter Anlass, die unterschiedlichen nationalen Erzählungen in Europa sichtbar zu machen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Aus dieser gemeinsamen Arbeit an der schmerzhaften Vergangenheit kann eine Verständigung entstehen, die über den Austausch der verschiedenen Erzählungen eine gemeinsame europäische Identität ermöglicht.
Diesem Gedanken folgend laden die Bundeszentrale für politische Bildung, die Körber-Stiftung und die Robert Bosch Stiftung im Mai 2014 rund 400 junge Europäer/innen nach Berlin ein. Die jungen Leute zwischen 16 und 25 Jahren kommen aus über 40 Nationen, um sich in einem europäischen HistoryCampus 14|14 am Maxim Gorki Theater darüber auszutauschen, welche Narben der Krieg hinterlassen hat, welche unterschiedlichen nationalen Erzählweisen es darüber gibt und was der Erste Weltkrieg mit ihnen heute zu tun hat. In über 20 Workshops, die von politischen Bildnern, Historikern und Künstlern, von Partnern aus Museen, Universitäten und internationalen Organisationen geleitet werden beschäftigen sich die Teilnehmenden drei Tage lang mit Schwerpunktthemen. Es geht beispielsweise um die Spuren des Krieges in den Familiengedächtnissen, um nationale Mythenbildungen, Feindbilder und Propaganda, um Patriotismus und das Konzept der ‚Ehre‘ und um den Umgang mit Traumata und Verlusten. Das Gespräch oder die Diskussion ist dabei nur eines der Formate für den Campus. Daneben gibt es eine Vielzahl an interaktiven, künstlerischen und kreativen Formaten, in denen Film-, Musik- und Toncollagen erstellt, Performances entwickelt und digitale Ergebnispräsentationen erarbeitet werden.
Der HistoryCampus ist eingebettet in ein größeres Rahmenprogramm, das unter dem Titel Europe 14|14 mit Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen, Diskussionen und Workshops vier Wochen lang die Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg einlädt. Besonderes Highlight ist ein kulturelles Programm zum Festival, das vom Gorki Theater mit namhaften Künstlern realisiert wird und mit Inszenierungen, Performances, Konzerten und Installationen die politische und kulturelle Lage um 1914 in Bezüge zur Gegenwart setzt.
Es könnte ein sehr spannender Dialog über den Umgang mit den unterschiedlichen Erinnerungen in Europa werden.