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Man spricht manchmal für die Zeit von 1850 bis 1913 von der ‚ersten Globalisierung’. Eine ähnliche wirtschaftliche Verzahnung wie am Vorabend des Ersten Weltkrieges wurde tatsächlich erst wieder nach dem Ende der Sowjetunion und der Entwicklung des internationalen Handels von 1991 bis heute erreicht.
Der immer stärkere wirtschaftliche Austausch behinderte jedoch keinesfalls die Entwicklung des Nationalismus, der sich in einem frenetischen Wettlauf um Einflusssphären und Kolonien ausdrückte. Dieser Wettlauf wurde wiederum durch wirtschaftliche Gründe gerechtfertigt.
Man kann jedoch auch erste Ansätze einer internationalen Konfliktregelung finden, die aber im historischen Kontext der Zeit scheiterten.
Dieser Text soll die - oft paradoxen - Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und internationalem Austausch einerseits, sowie Nationalismus und Kolonialismus andererseits beleuchten.
Tatsächlich kann man in dieser Periode ein noch nie dagewesenes Wirtschaftswachstum als Folge der Industrialisierung feststellen, vor allem in Europa. Das BIP der europäischen Länder verdreifachte sich. Die europäischen Börsen und Unternehmen bestimmten die wirtschaftliche Entwicklung, auch wenn die USA und Japan Anfang des 20. Jahrhunderts in den Kreis der großen Industriemächte eintraten. Großbritannien, Frankreich und Deutschland beherrschten den Welthandel. Fast drei Viertel aller weltweit verschifften Produkte stammten aus oder landeten in ihnen.
Die Lebensbedingungen verbesserten sich schlagartig. Landwirtschaft und Medizin machten enorme Fortschritte, und die Europäer/innen gewöhnten sich daran, mit den Annehmlichkeiten des technischen Fortschritts zu leben. 1910 hatten 80% der Bevölkerung in den europäischen Großstädten elektrisches Licht, man benutzte neue Transportmittel (Eisenbahn, Automobil, Dampfschiffe), die die Distanzen drastisch verkürzten.
Die europäischen Völker glaubten an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, der zu einer nie dagewesenen Steigerung des Lebensstandards und zu einer kompletten Änderung der Lebens-und Arbeitsbedingungen geführt hatte.
Ebenso schnell entwickelte sich der internationale Handel. Laut Schätzungen steigerte sich der Wert des Welthandels zwischen 1790 und 1913 um das Fünfzigfache. Die wirtschaftliche Verzahnung mit der Welt hatte große Vorteile: Zucker, Tabak oder Kakao - Waren, die noch Jahrzehnte zuvor nur einer Handvoll Aristokraten zur Verfügung standen - waren plötzlich auch für ‚normale’ Bürger/innen erschwinglich. Aber auch die gegenseitige Abhängigkeit stieg: Ohne den Austausch von Waren und Kapital konnten die wirtschaftlichen Systeme nicht aufrechterhalten werden.
Die spektakuläre wirtschaftliche Entwicklung und der wachsende Austausch der Güter und Kulturen führte aber nicht automatisch zu einer Öffnung der Mentalitäten, wie man es hätte erwarten können. Die Angst vor der internationalen Konkurrenz brachte protektionistische Praktiken hervor und verstärkte den Wettlauf um Kolonien. Man ging davon aus, dass die industrielle Entwicklung eng von der Ausbeutung und der Kontrolle der notwendigen Rohstoffe abhing. Daher nutzte man die des Mutterlandes so weit wie möglich (Beispiel: die Entwicklung des Ruhrgebiets in Deutschland von 1850 bis 1900), trachtete aber auch danach, welche aus anderen Gebieten zu bekommen, die man ‚besaß’ (also die Kolonien). Man versuchte, möglichst unabhängig von den anderen Großmächten zu bleiben, um diesen nicht die wirtschaftliche Hegemonie zu überlassen. Gleichzeitig dienten die Kolonien als exklusiver Absatzmarkt für die Produkte des Mutterlandes. Je größer dieser exklusive Absatzmarkt war, desto weniger musste man mit ausländischen Produkten konkurrieren. Der Aufbau eines möglichst großen Kolonialreiches wurde somit als unabdingbare Basis für die wirtschaftliche Entwicklung des Mutterlandes betrachtet.
Diese Logik wurde von allen europäischen Mächten geteilt, aber auch von Japan und den USA, den beiden aufsteigenden außereuropäischen Mächten, wie man im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 und im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 feststellen konnte. Reichskanzler Bernhard von Bülow übernahm die allgemeine koloniale Logik für Deutschland, als er am 6. Dezember 1897 vor dem Reichstag äußerte: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“
Das Beunruhigende an dieser Forderung und an der damit verbundenen wilhelminischen ‚Weltpolitik’ war somit weniger ihr Inhalt als die Tatsache, dass sie aus einem Land kamen, das den übrigen europäischen Mächten eine gewisse Angst einflößte. Das Deutsche Reich stieg in der Zeit bis 1913 zur größten Industriemacht und zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht Europas auf. Mit seinen knapp 65 Mio. Einwohnern (1910) und einem dynamischen Bevölkerungswachstum erschien es den anderen europäischen Mächten zudem als ‚demographischer Riese’, besonders in Bezug auf Frankreich, das 1911 nur 41,5 Mio. Einwohner zählte und dessen Bevölkerung nicht so schnell wuchs wie die anderer europäischer Staaten.
Die Produktionskosten in der stark wachsenden Industrie waren niedriger als in Großbritannien oder Frankreich. Deutschland konnte demzufolge die ausländischen Märkte mit einem günstigen Preis-Leistungs-Verhältnis erobern. Der ‚deutsche Handelsreisende’, der vor nichts zurückschreckte, um seine Produkte zu verkaufen, wurde zu einem beliebten Objekt britischer Karikaturist/innen. Man warf Deutschland vor, bewusst die Verkaufspreise seiner Produkte niedrig zu halten, um die ausländische Konkurrenz auszuschalten.
Deutschland kämpfte zudem seit der Reichsgründung mit einem ‚Geburtsfehler’: der Annexion Elsaβ-Lothringens und der dadurch hervorgerufenen Feindschaft Frankreichs. Diese Region gehörte zu den rohstoffreichsten in Europa und war in der Logik der weitgehenden wirtschaftlichen Autarkie, die sich, wie schon erläutert, analog zu der des Freihandels entwickelte, unentbehrlich.
Als Deutschland dann auch nach Kolonien strebte, versuchte man es außenpolitisch zu isolieren um seine Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Expansion zu beschränken, ohne jedoch zunächst ernsthaft an einen Krieg zu denken.
Gleichzeitig entstanden jedoch Versuche einer friedlichen Regelung internationaler Konflikte, um das Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden.
Der erste Versuch zu einer solchen internationalen Regelung war der Berliner Kongress von 1878. Diese Vermittlungsanstrengung machte den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck zu einer Schlüsselfigur im ‚europäischen Konzert’ der Großmächte, aber letztendlich war keiner der Beteiligten mit den Ergebnissen zufrieden. Der Balkan blieb ein 'Pulverfass', in dem russische und österreichische Interessen aufeinanderstießen, während die kleineren Balkanstaaten Serbien, Bulgarien und Rumänien weiterhin eine Vergrößerung ihres Staatsgebietes anstrebten - nach dem Modell des europäischen Nationalismus. Diese Unstimmigkeiten führten zu den Balkankriegen 1912/13 und letztendlich zum Attentat von Sarajevo und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Nationale Interessen lagen auch dem Anspruch Deutschlands auf freien Zugang zum marokkanischen Markt zugrunde, der in die zwei Marokkokrisen von 1905/06 und 1911 mündete. Es wollte diese Interessen mit den Prinzipien des internationalen Freihandels (Politik der ‚Offenen Tür’) rechtfertigen.
Die Konferenz von Algeciras 1906 (12 Teilnehmerstaaten) gab Deutschland zwar die Zusage, dass das Prinzip der ‚Offenen Tür’ respektiert würde. Frankreich, zu dessen ‚Interessensphäre’ Marokko gehörte, erhielt jedoch gleichzeitig die Kontrolle über die marokkanische Polizei und die Staatsbank, sodass es einen machtpolitischen und finanziellen Hebel hatte, um seine eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Dieses Abkommen war also ähnlich instabil wie die Ergebnisse des Berliner Kongresses und von der Furcht vor einer deutschen wirtschaftlichen Expansion geprägt. Mit der zweiten Marokkokrise und dem ‚Panthersprung’ nach Agadir 1911, der Deutschland in den Augen der internationalen Öffentlichkeit ins Unrecht setzte, verlor es dann gänzlich seinen Einfluss in Marokko.
Die Ansätze zu einer internationalen Konfliktregelung stießen also schnell an ihre Grenzen, da die Mentalitäten nicht mit dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt Schritt halten konnten, und die nationalen Interessen der Großmächte mehr zählten als mögliche gemeinsame Lösungen.
Man sieht also, dass politische und wirtschaftliche Spannungslinien im Vorfeld des ersten Weltkrieges eng miteinander verquickt waren und sich gegenseitig verstärkten. Die internationale Verzahnung der Wirtschaft und des Handels, die Europa und anderen Mächten einen noch nie dagewesenen Wohlstand beschert hatte, kam gewissermaßen zu früh, die wirtschaftliche Entwicklung verlief zu schnell, in einem Rahmen, der das Vorstellungsvermögen der betroffenen Länder und Völker bei weitem übertraf, sodass jeder befürchtete, die Vorteile, die aus dieser Entwicklung entstanden waren, ebenso schnell wieder zu verlieren. Man kann den Nationalismus und den Wettlauf um Kolonien fast als atavistischen ‚Schutzreflex’ bezeichnen. Der ‚Andere’, der zur eigenen wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen hatte, wurde zunehmend als Bedrohung empfunden, und jede Großmacht versuchte, die internationalen Beziehungen zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu nutzen. Die Versuche zu einer gemeinsamen, internationalen Konfliktlösung waren daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn die beteiligten Völker und Staaten waren sich ihrer Bedeutung für den gemeinsamen Fortschritt nicht bewusst.
Die europäischen Großmächte ‚schlitterten’ letztendlich durch ihre Selbstüberschätzung in einen nie dagewesenen weltweiten Konflikt hinein, wie es der britische Premierminister David Lloyd George nach dem Ersten Weltkrieg formulierte. Ihre Blindheit mussten sie auch auf wirtschaftlichem Gebiet teuer bezahlen, denn sie verloren ihre Führungsrolle in der Weltwirtschaft durch den Krieg an die USA. Von diesem Zeitpunkt an folgten die europäischen Börsen den US-Finanzmärkten, und die europäischen Staaten wurden von amerikanischen Krediten abhängig, woran auch die Kolonialreiche nichts änderten. Bis heute hat sich Europa aus dieser Abhängigkeit nicht mehr befreien können.