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Die Frage, ob man aus der Geschichte lernen könne, scheint heute ganz besonders unter den Nägeln zu brennen. Das Gedenkjahr, das an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert, ist ein wichtiger, aber nicht alleiniger Grund dafür. Sicher lassen sich runde Geburtstage besser im kollektiven Gedächtnis verorten. Doch der historisch interessierte Rückblick wird gegenwärtigen von Krisen an den Rändern Europas zeitgenössisch tingiert.
Schon seit längerem wurde die geopolitische Situation nach 1989 mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verglichen: das vorwärts stürmende China mit dem ungestümen Deutschen Kaiserreich und die herausgeforderte Weltmacht USA mit dem vor 1914 schon schwächelnden Britischen Empire. Doch erst kürzlich gab der deutsche Außenminister anlässlich einer Podiumsdiskussion mit Christopher Clark und Gerd Krumeich zu verstehen, dass ihm angesichts der gegenwärtigen Krise die Kenntnisnahme der diplomatischen Verwicklungen und Spannung vor dem Ersten Weltkrieg Schauer über den Rücken laufen lasse.
Eines der größten Vorhaben zu „1914“ in Nordrhein-Westfalen hat der Landschaftsverband Rheinland (LVR) im letzten September auf die Schienen gesetzt. Ein als kultureller Transferraum zwischen Berlin und Paris definiertes Rheinland bildet den geografischen Bezugspunkt für ein Projekt, das erstmals alle Museen und Kulturdienste des Dezernats Kultur und Umwelt unter ein Themendach versammelt. So kommen u.a. 14 Ausstellungen zustande, zu denen auch externe Partner beitragen: „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“. Mit einem internationalen Kongress startete das Unternehmen, das auch eine digitale Begleitung kennt und mit einem Schülerkonvent auf der „Eurovision“ im Frühjahr 2015 endet.
Das Dachmarken-Marketing sorgt dafür, dass es sich um kommunikativ aufeinander abgestimmte Angebote handelt. Turnusmäßige Beiratssitzungen und Regionalkonferenzen galten dem Ziel, auch ein durchkuratiertes Gesamtvorhaben zu garantieren, was bei der Vielzahl der naturgemäß auf Profilbildung konditionierten Beteiligten unterschiedlicher Größenordnung und kulturpolitischen Formats oftmals Engelsgeduld in Anspruch nahm.
Die rhetorische Figur eines Geschichtsengels stammt von Walter Benjamin und bezieht sich auf die geschichtsphilosophische These, wonach es kein Dokument der Kultur gebe, das nicht zugleich eines der Barbarei sei. An diese Sentenz hält sich auch das LVR-Projekt, indem es das Amalgam von „Aggression und Avantgarde“, so der Titel des einleitenden Kongresses, als methodische Richtschnur für alle Teilprojekte vorschlug. Benjamins Engel der Geschichte schaut nämlich zurück auf ein Trümmerfeld und der Sturm der Geschichte, der dem Zeitpfeil der Moderne folgt, hat sich in seinen Flügeln verfangen. Nicht die messianische Auslegung Benjamins soll uns anleiten, aber ein Verständnis des Bildes, das wir Jürgen Habermas verdanken:
„Wir teilen mit ihm [nämlich Heine] das moderne Bewusstsein eines dynamisierten Zeitflusses, der wie Benjamins Engel von der Zukunft her auf die jetzt lebenden Generationen zustürzt, um diese aus der Vergangenheit herauszureißen und im Horizont ihrer jeweiligen Zukunft mit der Forderung zu konfrontieren, zwischen offenen Alternativen verantwortlich zu wählen und die richtige Antwort zu finden.“
Dahinter stecken zwei bildungsrelevante Zentralaussagen. Es geht um den Anspruch, ein Ganzes der Geschichte zu überblicken, nicht ein Detail, nicht eine Disziplin. Und es ist die Offenheit gefragt, selbständig Entscheidungen über theoretische Richtigkeit und praktische Konsequenzen zu ziehen.
Für Historiker mag jede geschichtsphilosophische Einstellung schon ein Gräuel sein, ein kontradiktischer „Kentaur“ (Jakob Burkhardt). Doch für den Bildungstheoretiker ist die philosophische Frage nach dem Ganzen wichtig, weil nur sie Orientierungswissen erlaubt. Orientierung verstanden als Horizonte öffnende Überwindung von Borniertheiten, wie sie etwa durch berufsbedingte Fachlichkeit entsteht, ist dann Ziel von Bildung im Sinne sozialer Kompetenz wie Ich-Autonomie. So soll denn auch ein interdisziplinäres Epochen-Bild mit all den Angeboten des Grand Projet entstehen. Es versteht sich als Anlauf zur Synthese, wie sie jüngst Hans Ulrich Wehler angemahnt hat. Synthesen aber dürfen nicht zu neuen Meistererzählungen geraten, die das Bildungsziel „selbstbewusster Identitätsarbeit“ (Wolfgang Braungart) verfehlen.
Gegen Meistererzählungen ist das Unternehmen so gut wie möglich gewappnet. Die angebotenen Ex-Positionen, die Vielfalt der Ausstellungen, das Exkursionsprogramm, die Tage der Offenen Tür, haben mit Dingen und Dingensembles zu tun, denen Präsentationen eine Modalität zukommt, die von einer meisterlichen Begriffsbildung nur schwer einzuholen ist. Hier greifen die Argumente einer viel diskutierten Bildakttheorie (Horst Bredekamp), die Darstellungen dieser Art eine gewisse Selbständigkeit sowohl gegenüber den Produzenten wie den Rezipienten zutrauen. Das synthetische Bestreben ist also auch in seiner ästhetischen Dimension wörtlich zu nehmen: Es geht um ein Epochen- Bild.
Die damit versuchte Offenheit im Blick auf ein Ganzes kommt den Bemühungen und Überlegungen der Weltkriegshistoriker entgegen. Sie betonen selbst die Problematik einer begrifflichen Durchdringung der komplexen Materie. Sie empfehlen Intuitionen, erfinden Figuren und suchen Zuflucht bei der Kunst, um ihre zusammenhängenden Darstellungen zu legitimieren: „glückliches Ahnungsvermögen“ (Jakob Burckhardt), das Schlagen von „Schneisen“ durch einen Dschungel unübersehbarer Literatur (Oliver Janz), im Zusammenhang der Verwicklungen um die Julikrise gar „DADA“ (Gerd Krumeich) - oder eben auch ein Engel (Christopher Clark). Dieser Engel aber ist keine Meistererzählerin, sondern von ausgesuchter Exzentrik.
Dem stimmt Herfried Münkler, Vertreter der politischen Theorie zu, wenn auch er zu ästhetischen Gebilden greift, um besagtes Wesen zu begreifen: Es lassen sich nur „Ähnlichkeiten in den Konstellationen“ und „mögliche Szenarien des Handelns und Gegenhandelns“ herausarbeiten, eben „Orientierungsmuster“. Insofern bleibt die Geschichte eine Lehrerin, aber eine „exzentrische“, wie Clark betont, weil wir uns die Mühe machen müssen, „eigene Schlüsse zu ziehen“. Das rheinische Projekt bietet himmlische Hebammendienste dazu an.