Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Wo genau verlief die Grenze zwischen Potsdam und Berlin-West? Auf diese Frage wissen Nachgeborene allenfalls die Glienicker Brücke zu nennen. Schon wenige Jahre nach dem Mauerfall waren die Spuren weitestgehend getilgt. Neuerdings erinnert der Mauerradweg mit seinen Hinweisschildern daran; orangefarbene Stelen erzählen einige Ereignisse und Einzelschicksale, die in dem jeweiligen Abschnitt stattgefunden haben.
Um den Mauerverlauf genau und mit lebhaften Berichten festzuhalten, drehten 16 Schüler/innen der Oberstufe der Waldorfschule Potsdam einen Dokumentarfilm im Winter 2010/11. Dafür erarbeiteten sie sich in kleinen Gruppen Hintergrundwissen, denn der Film sollte ohne Vorkenntnisse auch von Jüngeren verstanden werden können. Sie suchten und fanden Zeitzeug/innen, die bereit waren, über ihr alltägliches Leben im Schatten der Mauer mit Passierschein, einen Fluchtversuch, das Patrouillieren als Grenzer u.Ä. Auskunft zu geben.
So entstanden im Projektunterricht in acht Wochen à vier Wochenstunden und teilweise in der Freizeit die einzelnen Komponenten, die in einer logischen Form zu strukturieren waren. Die Jugendlichen verfassten schülergerechte Off-Texte, bereiteten die Interview-Fragen vor, recherchierten die lokalen Hintergründe und gingen dann, teilweise an den Originalschauplätzen, vor die Kamera. Unterstützung erhielten sie von den drei Projektleiterinnen im Finden der Gliederung sowie der Zeitzeug/innen und vom Kameramann Clemens Sonntag in der Aufnahme, der auch den Schnitt technisch umsetzte. Entscheidungen über Inhalte und Filmästhetik wurden gemeinsam gefällt. – Die „Bundesstiftung Aufarbeitung“ förderte den Film finanziell, der Verein zur Förderung der Projektwerkstatt "Lindenstraße 54" e.V. unterstützte ihn personell.
Einige Zeitzeug/innen erzählten ihre Geschichte hier erstmalig, darunter Menschen, die den Schüler/innen täglich begegnen als Hausmeister unserer Schule, Hortner/in oder Lehrer/in, deren persönliche Sicht als von der Geschichte Geprägte sie jedoch noch nicht kannten. Andere Befragte arbeiten z.B. für die Projektwerkstatt „Lindenstraße 54“ öfter mit Jugendlichen. Potsdamer/innen berichteten aus ihren Erinnerungen an das Leben mit der Mauer. Zuschauende lernen Schicksale mit historischen Kollateralschäden kennen, die Propagandaeffekte („Rotlichtbestrahlung“) verdeutlichen, sie hören vom Verschweigenmüssen einer beobachteten gescheiterten Flucht ebenso wie vom Mut des jungen Mannes, der seinem Staat durch den Teltowkanal davonschwamm (ein Teil der Grenze fällt ins Wasser) und einige Jahre später als Fluchthelfer wirkte. Ein Historiker kommentiert und stellt den großen Rahmen her.
Wichtig war uns die Multiperspektivität. Widersprüche, die sich punktuell aus den Berichten ergeben, werden daher nicht immer aufgelöst. – Interviewpartner unter den ehemaligen Grenzern zu finden wurde sehr schwierig, manche fühlten sich zu alt, andere lehnten ab. Für die Täterseite gilt im Übrigen besonders in der Erforschung durch Jugendliche ein Überwältigungsverbot.
Alle Schüler/innen recherchierten einzelne Abschnitte des Grenzverlaufs und stießen dabei auf spannende Geschichten. Mauerfluchten gingen drüber und drunter. Beispiel Klein-Glienicke: In dieser verwinkelten Exklave der DDR gruben zwei Familien im Sommer 1973 bei Niedrigwasserstand einen 19 m langen Tunnel nach Westberlin. Den Weg über die Mauer wählten 1971 zwei Dachdecker, die die dortige Kirche zu reparieren hatten, dank ihrer Leitern.
Da die DDR für die heutige Jugend fast so weit entfernt erscheint wie die Römer, war es zweckmäßig, im Film grundlegende allgemeine Informationen über die zweite deutsche Diktatur zu geben. Besagte Off-Texte greifen wichtige Aspekte aus den Interviews auf, etwa Passierschein, DDR als solche, Transit, Gründe für die Flucht...; sie wurden von einem Schüler eingesprochen. So gelang es, die Verbindung herzustellen zwischen Lokalgeschichte und Kaltem Krieg, also Weltgeschichte.
Ein ehemaliger Grenzer wollte seinen Bericht nur im Ton aufnehmen, sich aber nicht filmen lassen. Um nicht eine schwarze Leinwand zu zeigen, bedurfte es weiteren Bildmaterials. Dabei waren Rechtefragen zu beachten. Um unsere historischen Erkenntnisse in einem knapp einstündigen Film zu erzählen, mussten wir neun Stunden Material in einen Spannungsbogen bändigen und uns mit Filmästhetik beschäftigen. Durch die Lösung von Fragen des Schnittes und der Musikuntermalung wurde nebenbei die Medienkompetenz der Jugendlichen weiterentwickelt.
Nach der Premiere im Potsdamer Filmmuseum, deren Nachgespräch von zwei Schülern moderiert wurde, erhielt der Film zwei Preise.[1] Er wird in Unterricht und der Lehrerfortbildung eingesetzt.
Einige Teilnehmer dieses Projekts haben inzwischen Abitur gemacht und im Fach Geschichte festgestellt, dass der DDR-„Stoff“ viel nachhaltiger „sitzt“ als nur aus Büchern Angelesenes, dank der vielseitigen Erlebnisse mit Zeitzeug/innen, der Relevanz ihrer selbstformulierten und vielfach korrigierten Texte zum Hintergrund und der sich anknüpfenden Gespräche mit anderen Menschen des privaten Umfelds.
Der Film kann online kostenfrei angesehen werden oder an der Waldorfschule Potsdam gegen Vorkasse bestellt werden.
Waldorfschule Potsdam: www.waldorfschule-potsdam.de
Schülerprojektwerkstatt "Lindenstraße 54": www.pw-gedenkstaette-potsdam.de.vu
[1] 3. Platz im History-Award 2011 „Über die Grenzen“, 1. Preis im Schülerwettbewerb Walter-Scheler 2011 zum Thema „50 Jahre Mauerbau“ von der Geschichtswerkstatt Jena e.V.