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Ein Gespräch mit Dr. Irina Sherbakowa von der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" zur Wahrnehmung der Wende in Russland.
Lernen aus der Geschichte (LaG): Welche Bedeutung haben der Berliner Mauerfall und das Jahr 1989 in der russländischen Debatte zum Ende der Sowjetunion?
Dr. Irina Sherbakowa (IS): Der Fall der Berliner Mauer hatte natürlich für Russland enorme Bedeutung, denn es bedeutete letztendlich das Ende des Kalten Krieges. Leider wird jetzt oft behauptet, dass Gorbatschow viel zu schnell gehandelt habe. Vor allem nimmt man ihm übel, dass er damals der NATO-Osterweiterung zugestimmt hat. Gleichzeitig war die Stimmung bei vielen Menschen nahezu euphorisch: Hunderttausende gingen auf die Straßen Moskaus, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Die DDR und ihre Führung schienen damals den ewig Gestrigen anzugehören und man weinte ihr keine Träne nach. Im Gegenteil, man baute in der Sowjetunion schnell Vorurteile gegen die BRD ab, auch deshalb weil von dort massive humanitäre Hilfe kam.
Leider werden jetzt bei uns die 90er Jahre (auch in den neuen Geschichtslehrbüchern) als die „bösen neunziger Jahre“, als Periode des vollständigen Zerfalls und des Chaos beschrieben. Der Zerfall der SU wird als größte politische Katastrophe des 20. Jh. dargestellt. Dies alles bezweckt das Bestreben der heutigen Machthaber die Menschen davon zu überzeugen, dass der Weg der Demokratie ein falscher Weg für Russland sei und nur eine starke Hand und ein starker Staat Russlands Rettung sein können. Vor diesem Hintergrund erscheint der Fall der Mauer wenig bedeutsam.
Der Bau der Berliner Mauer 1961 wird als „extravagante politische Entscheidung“ im oben erwähnten Geschichtslehrbuch bezeichnet. Kein Wort davon, was diese Entscheidung für die beiden deutschen Staaten und das Schicksal tausender Deutsche bedeutete. Breschnew und Andropow werden also faktisch positiv bewertet. Man darf auch nicht vergessen, dass die Öffnung der Archive und der Umgang mit der Stasi und den IM anders gehandhabt wurde, als im heutigen Russland, wo heute an fast allen entscheidenden Posten Menschen mit ehemaliger KGB/FSB Vergangenheit sitzen.
LaG: Die Rolle von Michael Gorbatschow in den Umbrüchen der 1980er Jahre wird in Deutschland sehr positiv bewertet, welche Bedeutung wird Michael Gorbatschow heute in Russland zugestanden?
IS: Gorbatschow musste darunter leiden, dass man ihm allein die Schuld am Zerfall des sowjetischen Systems zuschob. Umso mehr schätzen heute ausgerechnet seine damaligen Kritiker, die damals den Reformprozess beschleunigen wollten, seine Verdienste, trotz deren Fehler und der Inkonsequenz seiner damaligen Politik. Aber heute, während Russland ganz eindeutig einen anderen Weg beschreitet, als den zu Offenheit und Demokratie, lernt man das schätzen, was Gorbatschow trotz allem ausgemacht hat. Nämlich seine wirkliche Offenheit dem Westen gegenüber, und sein ernsthafter Versuch Feinbilder abzubauen. Und noch etwas ganz wichtiges, wenn wir uns das Beispiel Jugoslawien anschauen, der unblutige Zerfall des sowjetischen Imperiums ist auch zum einem großen Teil sein Verdienst.
LaG: 20 Jahre sind seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen. Öffentliche Großkampagnen in Deutschland konzentrieren sich fast ausschließlich auf dieses Ereignis, blenden seinen langen Vorlauf fast vollständig aus. Wie stehen Sie zu der Debatte in Deutschland?
IS: Es scheint, dass man im heutigen Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall die Bedeutung von Perestrojka und von Gorbatschows Verdiensten für die Wiedervereinigung Deutschlands irgendwie verdrängt. Manchmal scheint es, als hätten sich die Menschen in der DDR damals einfach selbst befreit. Das ist natürlich eine starke Mythologisierung, denn aus unserer damaligen Perspektive war es genau umgekehrt. Uns ging es in der DDR damals viel zu langsam.
LaG: Im öffentlichen Umgang mit der Geschichte der DDR und deutsch-deutscher Geschichte zeigt sich immer wieder wie wenig differenziert Geschichtsbilder der DDR von Schülerinnen und Schülern in Deutschland teilweise sind. Eineneuerliche Studie zu den Einstellungen 16-17 jähriger Schülerinnen und Schüler zur DDR legt nahe, dass in den Schulen zu wenig über DDR-Geschichte gelehrt wird. Stattdessen beziehen Schülerinnen und Schüler ihr Wissen zum Großteil aus ihrem sozialen Umfeld, meist dem Elternhaus. Sehen Sie Parallelen dazu in der russländischen Bildungspraxis?
IS: Natürlich kann man gewisse Parallelen finden, was die Sichtweise auf die ehemalige DDR betrifft. Eine Nostalgie bei älteren Menschen, die Verharmlosung, das Verdrängen der eigenen Verantwortung - das ist keine gute Grundlage für eine wirkliche Aufarbeitung. Aber die Situation in Russland sieht diesbezüglich viel gefährlicher aus. Es geht nun sogar so weit, dass es auf eine Rechtfertigung von Stalin und seiner Politik hinausläuft. Natürlich geschieht dies nicht nur, um ein positives Bild von der Vergangenheit zu zeichnen, sondern auch, um eine ganz bestimmte historische Tradition zu kreieren, mit der sich eine starke Macht legitimieren lässt.
Schüler sollen durch einen solchen Geschichtsunterricht die Überzeugung gewinnen, dass eine starke Macht, und wenn sie noch so autoritär ist, für Russland die Rettung und letztlich ohne Alternative ist. Die Vorstellung von Russland als einer Staatsmacht, die stets von Feinden eingekreist ist – das ist es, was sich die heutigen Schüler aneignen sollen. Nur eine starke Macht, eine starke Hand habe Russland gerettet und wird es vor innerem Chaos und äußeren Bedrohungen schützen: Aus diesen Mosaiksteinen soll sich heute eine nationale Idee entwickeln und ein Konsens entstehen, indem eine Kontinuität im russischen Staatswesen von Ivan dem Schrecklichen über Peter I. bis zu Stalin und noch weiter gesehen wird. Aus dieser Perspektive brachte das Jahr 2000 endlich Ordnung, allgemeines Glück und den Triumph der souveränen Demokratie.