Zur Diskussion

Der Tag der Deutschen Einheit – Herausforderungen und Chancen für das schulische Lernen

Dr. Markus Drüding wurde 2013 in Münster promoviert und arbeitet derzeit als OStR am Alten Gymnasium in Oldenburg. Er ist zudem als Multiplikator in der Lehrerfortbildung tätig.

Markus Drüding

„Jahrestage“, so Ivan Krastev, „sind wie Flächenbombardements: Sie bewerfen uns mit ,Lektionenʻ aus der historischen Forschung, mit wissenschaftlichen Abhandlungen, Romanen, Konferenzen, Filmen und Ausstellungen, und sie verlangen bedingungslose Kapitulation.“ (Krastev 2017: 4). Mit diesem gewöhnungsbedürftigen Vergleich stellt sich der bulgarische Politologe in eine Reihe mit Kritiker*innen, die in den vergangenen Jahren die boomende Gedenktags- und Jubiläumskultur scharf verurteilten. Ihre Vorwürfe sind schnell aufgezählt: Im Rahmen solcher Feiertage würde ein verengtes Geschichtsverständnis zelebriert. Sie seien vor allem von ökonomischen Interessen getrieben und man könne sich diesen Feiertagen durch die mediale Dauerbeschallung kaum entziehen (Bösch 2020: 30f; Demantowsky 2014). Gedenktage und Jubiläen, daran ließen die Kritiker keinen Zweifel, bringen also mehr Schaden als Nutzen und gehören in die Schmuddelecke kultureller Praktiken. Angesichts dieser Kritik überrascht es kaum, dass beherzte Gegenstimmen lange auf sich warten ließen. Eine dieser Reaktionen stammte von der Geschichtsdidaktikerin Saskia Handro, die betonte: „Wir brauchen Jubiläen“ – und damit auf deren Potentiale hinwies (Handro 2022: 265). Die Debatte zeigt: Gedenktage und Jubiläen bergen erhebliches Konflikt- und Diskurspotential. Sie sind in unserer Gesellschaft Foren oder Arenen gesellschaftlicher Auseinandersetzung. In dieser Hinsicht kann nicht zuletzt der 3. Oktober als ein typischer Gedenktag gelten. Seine Chancen und Herausforderungen sollen im Folgenden mit Blick auf das historische Lernen und am Beispiel der Feierlichkeiten des Jahres 2024 diskutiert werden.

Spezifik und Herausforderungen des Tags der Deutschen Einheit

Der Tag der Deutschen Einheit wurde 1990 im Einigungsvertrag als Nationalfeiertag festgelegt. Gefeiert wird an diesem Tag der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD. Anders ausgedrückt: Gefeiert wird, zumindest vordergründig, ein staatspolitischer Verwaltungsakt. Unter den damaligen Akteuren war zwar unstrittig, dass ein gesamtstaatlicher Nationalfeiertag nötig ist. Doch die Wahl des Datums sorgt bis heute für Diskussionen.

1. Das Problem der Symbolik und des Ortes

Im Unterschied zu den Nationalfeiertagen in Frankreich, Spanien oder der Türkei ist der deutsche Nationalfeiertag ein Abstraktum. Denn das historische Ereignis, das am 3. Oktober gefeiert wird, ist öffentlichkeitswirksam weder mit greifbaren Personen und Orten verbunden noch mit Symbolen aufgeladen. Damit hat der deutsche Nationalfeiertag im Vergleich zu anderen Anlässen wie dem Mauerfall oder der 1848er Revolution ein erhebliches Defizit. Jene Ereignisse sind mit konkreten (Erinnerungs-)orten verknüpft, an denen Menschen gekämpft, gestritten oder gefeiert haben. Sie bieten sich für die mediale Verbreitung, die emotionale Aufladung und damit für die Gemeinschaftsstiftung geradezu an. Der 3. Oktober bietet das hingegen nur bedingt. Als Hilfsgerüst verweisen Politiker*innen daher in ihren Reden, wie zuletzt Bundespräsident Steinmeier, auf die bereits erwähnten anderen Ereignisse. Der Erfolg dieser Bemühungen ist indes begrenzt. Wenn man Schüler*innen fragt, dann ist der 3. Oktober für sie kein Feiertag, sondern lediglich ein freier Tag.

2. Das Problem der Bezeichnung

„Tag der Deutschen Einheit“ verweist auf den Zusammenschluss zweier zuvor getrennter Staaten. Die Bezeichnung ist folgerichtig, da am 3. Oktober dieser Vorgang tatsächlich vollzogen wurde. Dennoch ist diese Bezeichnung mehrdeutig. Bundeskanzler Olaf Scholz betonte in seiner Rede zum Jahrestag 2024, dass „die Einheit“ auch nach 35 Jahren nicht vollzogen ist, dass es soziale wie kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Mittlerweile scheint zwar auch in den Festtagsreden die Erkenntnis durchgesickert zu sein, dass Einheit nicht Gleichheit bedeutet. Allerdings ist bis heute unklar, was „deutsche Einheit“ eigentlich meint. Für Schüler*innen, besonders aus Einwandererfamilien, bedeutet diese Bezeichnung aber noch eine andere Herausforderung: Das Begriffspaar „deutsche Einheit“ wirft Fragen nach der eigenen Zugehörigkeit und Identität auf und birgt damit auch ein Konfliktpotential.

3. Das Problem der Sinnstiftung

Welche Geschichte soll eigentlich, passend zum 3. Oktober, erzählt werden? Folgt man dem Historiker Jörn Rüsen, wäre zu solchen Anlässen eine traditionale Sinnstiftung zu erwarten: eine Erfolgs- und Heldengeschichte, die mithilft der Historie Hoffnung für Gegenwart und Zukunft spendet (Rüsen 2008: 36). Doch solche Erzählungen fehlen in den Festtagsreden. Dafür mag es mit Blick auf die deutsche Geschichte gute Gründe geben. Auffällig ist jedoch, dass die Festreden zum 3. Oktober regelmäßig einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft vermissen lassen und vage bleiben. Das zeigte nicht zuletzt das Motto zum Tag der deutschen Einheit 2024: „Vereint Segel setzen“ – nur wohin die Reise gehen soll, blieb unklar.

Potentiale und Chancen

Der Tag der Deutschen Einheit ist kein bequemer Feiertag: Er lädt weder zum nostalgischen Schwelgen noch zum heroischen Feiern der eigenen Nationalgeschichte ein. Gerade deshalb kann dieser Feiertag auch als Glücksfall begriffen werden: Er birgt, nicht nur für das historische Lernen, erhebliche Chancen.

1. Ein Tag für jeden Ort

Jedes Jahr richtet eine andere Landeshauptstadt die Feierlichkeiten zum 3. Oktober aus. Dieser Wechsel betont den Föderalismus und die kulturelle Vielfalt Deutschlands. Die fehlende Verknüpfung des Nationalfeiertages mit einem konkreten Ort eröffnet im Vergleich zu alternativen Anlässen also auch Chancen: Die Mauer fiel nun mal nur in Berlin und das Grundgesetz ist vor allem mit Bonn verknüpft – und galt zunächst auch nur für einen Teil unseres Landes. Die Wiedervereinigung fand hingegen in ganz Deutschland statt und betrifft alle. Programmatisch wird diese Bedeutung des 3. Oktober mit verschiedenen medialen Formaten jedes Jahr umgesetzt – damit „kommt“ dieser Feiertag zu den Menschen. Schüler*innen sollten daher im Sinne der Methodenkompetenz lernen, mit seiner medialen Inszenierung umzugehen – und ebenso mit den unter Rückgriff auf die Geschichte vermittelten Botschaften (zu möglichen Anregungen Drüding 2020: 20–27; Burkhardt 2024: 209–218).

2. Ein Tag zum Nachdenken und Diskutieren

Der 3. Oktober ist kein selbsterklärender Feiertag und bietet nur ein begrenztes Potential der Emotionalisierung. Er fordert zum Nachdenken auf: Was bedeutet deutsche Einheit? Was heißt es, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein? Welche Geschichten möchte diese Gesellschaft von sich, etwa in Bezug auf die letzten 35 Jahre, erzählen? Der Nationalfeiertag liefert keine fertigen Antworten, es gibt keine ritualisierten Meistererzählungen. Vielmehr fordert er zur Auseinandersetzung mit diesen identitätsrelevanten Fragen auf. Die Kritik am Nationalfeiertag kann daher auch als Ausdruck dieser Auseinandersetzung begriffen werden – und ist ein Zeichen gelebter Demokratie. Im Sinne einer Kontroversität bietet dieser Tag also für Schüler*innen die Möglichkeit, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen und sich an den Debatten zu beteiligen. So lernen Schüler*innen, sich in der demokratischen Gesellschaft zu positionieren. Hinweise und Materialien bietet die Webseite www.planet-schule.de

3. Ein Tag der Geschichten

Spätestens mit Reinhart Koselleck hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Geschichte als Kollektivsingular gedacht werden kann: „Die Geschichte“ besteht aus zahllosen einzelnen Geschichten. Anstelle einer Meistererzählung, auf die eine Gemeinschaft eingeschworen wird, bietet dieser Tag die Chance, viele Geschichten zu erzählen. Schüler*innen können und sollten dazu befähigt werden, solchen Geschichten nachzuspüren. Ebenso sollte es darum gehen, dass sie ihre eigene Geschichte der Wiedervereinigung erzählen, also darlegen, was dieser Tag für sie gestern, heute und in Zukunft bedeutet. Gerade junge Menschen, die noch keine lange Lebensgeschichte haben, brauchen Antworten, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Wie ein solches Projekt zum Tag der Deutschen Einheit aussehen könnte, zeigt das journalistische Schüler*innenprojekt „Europa für Kinder von Kindern“ (Boeser-Wolf.Schule.de).

Ein Plädoyer – statt eines Fazits

Wir müssen lernen, unseren Nationalfeiertag zu nutzen. Denn er erfüllt für unseren Staat, für unsere Gemeinschaft zentrale Funktionen. Er kann Gemeinschaft stiften, den Staat stärken – oder spalten (Drüding 2020:16ff). Die positiven Qualitäten entstehen nicht von selbst, sondern müssen wie ein Schatz gehoben werden. Insofern gilt es, den Umgang mit diesen Feiertagen zu lernen. Damit ist nicht gemeint, sich aus Anlass eines Nationalfeiertages mit der deutschen Geschichte zu befassen. Dieser Gedanke ist, auch wenn es hierzu bemerkenswerte Materialien gibt, trivial. Es müsste vielmehr erstens darum gehen, Schüler*innen zu befähigen, Gedenktage und Jubiläen zu lesen und damit zu verstehen. Das beinhaltet, sie in die Lage zu versetzen, die – auch KI generierten – medialen Angebote im Zusammenhang mit unserem Nationalfeiertag zu dekonstruieren und sich gegebenenfalls von ihnen zu distanzieren (Burkhardt 2025: 135ff). Zweitens sollten sich Schüler*innen als geschichtskulturell kompetente Mitglieder unserer Gesellschaft an der Ausgestaltung des Nationalfeiertages beteiligen können. Es geht im Sinne der Partizipation also um die Entwicklung eigener medialer Angebote und Deutungen zum Nationalfeiertag. In Bezug auf diesen Aspekt historischen Lernens geschieht – konkret bezogen auf den 3. Oktober – noch zu wenig. Ein gelungenes Beispiel, wie diese geschichtskulturelle Partizipation auf lokaler Ebene im Rahmen eines Gedenktages aussehen kann, ist der Erinnerungsgang in Oldenburg, der jährlich zum 9. November stattfindet. Vorbereitet wird er von einem Trägerverein, der Stadt Oldenburg sowie – im Wechsel – von jeweils einer Schule (Wehen-Peters 2023). Oldenburger Schüler*innen gestalten dabei gemeinsam mit den Trägern Ausstellungen, Theaterstücke oder Podcasts – und erzählen ihre Sicht auf die Geschichte. Sie verlassen also die Rolle der bloßen Rezipient*innen. Solche Ansätze könnten auch den 3. Oktober bereichern. Vielleicht wird er dann eines Tages zu einem Feiertag ohne irgendwelche Adjektive – zu einem echten Tag der Einheit.

Literatur

Bösch, Frank: Im Bann der Jahrestage – Essay, in: APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte), 33–34 (2020), S. 29–33.

Burkhardt, Hannes: Historisches Lernen mit Sozialen Medien. Historische Gedenktage und Jubiläen auf TikTok, Instagram und Twitter im Geschichtsunterricht am Beispiel der (Berliner) Märzrevolution 1848, in: Hartung, Olaf/Krebs, Alexandra/Meyer-Hamme, Johannes (Hrsg.): Geschichtskulturen im digitalen Wandel? Frankfurt a. M. 2024, S. 206–224.

Ders.: Historisches Lernen mit künstlicher Intelligenz, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 76 (2025), H. 3/4, S. 125–138.

Demantowsky, Marko: From Anniversary to Anniversaryitis, in: Public History Weekly, 2 (2014), H. 11, 27.03.2014, URL: https://public-history-weekly.org/2-2014-11/vom-jubilaeum-zur-jubilaeumitis [eingesehen am 04.09.2025].

Drüding, Markus: Historische Jubiläen und historisches Lernen, Frankfurt a. M. 2020.

Handro, Saskia: Wozu noch historische Jubiläen? Wiederholung als gesellschaftliche Integrations- und Orientierungsressource, in: Gundermann, Christine/Knoch, Habbo/Thünemann, Holger (Hrsg.): Historische Jubiläen. Zwischen historischer Identitätsstiftung und geschichtskultureller Reflexion, Berlin 2022, S. 233–268.

Krastev, Ivan: Analogie zum Jahr 1917? Was uns die Russische Revolution über Donald Trump sagen kann – Essay, in: APuZ, 34–36 (2017), S. 4–8.

Rüsen, Jörn: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Schwalbach 2008.

Wehen-Peters, Britta: Schulische Geschichtskultur am Beispiel des Erinnerungsgangs Oldenburg, in: Drüding, Markus/Marschhausen, Frank/Roeder, Uwe (Hrsg.): Kontinuität des Wandels − Das Alte Gymnasium Oldenburg. Beiträge zu seiner 450-jährigen Geschichte, Oldenburg 2023, S. 365–376. 

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.