Hilft Erinnerung gegen Fliehkräfte, oder: Brauchen Gruppen und Gesellschaften die Vergangenheit für ihren Zusammenhalt? Eine Tagung des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) diskutiert diese Fragen anhand der Erinnerungskultur in der postmigrantischen Gesellschaft, des kollektiven Erinnerns an Nationalsozialismus, DDR und Wende und mit Blick auf die globale Dimension von kollektivem Gedächtnis.
Die Entstehung der Memory Studies Ende des 20. Jahrhunderts ist ein Symptom für das, was vielfach als „Erinnerungsboom“ bezeichnet wird. Die Konjunktur von Erinnerungsforschung und -praktiken wirkt sich unmittelbar auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft aus. Ganz unterschiedliche, teilweise sich diametral gegenüberstehende Konzepte von Zusammenhalt bedienen sich der Erinnerung an Vergangenes nicht nur, sie sind auch selbst Ergebnis dieser Erinnerung. Dementsprechend entzündet sich der Streit zwischen Zusammenhaltsvorstellungen auch immer wieder an der Vergangenheit. Kollektive Erinnerung erweist sich als ein zentrales Konfliktfeld, auf dem gesellschaftliche Teilgruppen um die Deutung von Vergangenheit sowie um Anerkennung und Sichtbarkeit ringen. Zugleich birgt sie das Versprechen auf heilende Wirkungen und Versöhnung.
Exemplarisch lässt sich das Spannungsfeld zwischen Konflikt und Heilungsversprechen an gegenwärtigen erinnerungspolitischen Debatten in Deutschland nachzeichnen. Dazu gehört die Auseinandersetzung über das etablierte und staatstragende Bekenntnis zur NS-Erinnerung einerseits und neuerliche Schlussstrichforderungen andererseits. Dazu gehören aber auch jene zwischen Ost und West oder migrantischer und nichtmigrantischer Bevölkerung verlaufenden, von Verletzungen und Ausgrenzungserfahrungen geprägten Risse in dem, was gemeinhin als „kollektives Gedächtnis“ bezeichnet wird. Der Eindruck des gesamtgesellschaftlichen Desinteresses an der „anderen“ Geschichte untergräbt jedes Gefühl von Zusammenhalt bei denen, deren Geschichte(n) nicht dazu zu zählen scheinen. Die Vielfalt von Erinnerungskulturen in der Post-Wende- und Einwanderungsgesellschaft harrt noch ihrer Anerkennung. Das gilt für die Erinnerung an die DDR-Geschichte, die (Nach-)Wende-Zeit ebenso wie für migrantische Herkunfts- und Ankommensgeschichten oder Verfolgungsgeschichten marginalisierter Gruppen. Gleichzeitig lässt sich keins dieser Spannungsfelder allein in nationalen Containern verstehen. Sie sind vielfach mit übergreifenden, globalen Vergangenheitsdeutungen und Erinnerungspraxen verwoben.
Die Tagung des FGZ-Clusters 3: „Historische, globale und regionale Varianz des Zusammenhalts“ widmet sich dieser Bandbreite von Vergangenheitsbezügen bei der (Des-)Integration von Kollektiven und Gesellschaften. Die Panels befassen sich mit der globalen Dimension von kollektivem Gedächtnis, dessen Status Quo in der postmigrantischen Gesellschaft, der Erinnerung an Nationalsozialismus, DDR und Wende. Die Beiträge stammen aus der Geschichtswissenschaft, Sozialpsychologie, Global Studies, Kulturtheorie, Ethnologie und Literaturwissenschaft.
In einer Abendveranstaltung am 22.11. diskutieren Dan Diner, María do Mar Castro Varela und Bénédicte Savoy über erinnerungspolitische Kämpfe um Shoah, Kolonialismus und Bedürfnisse der Gegenwart.
Datum
22./23. November 2021
Ort
HBS-Gebäude
Hardenbergstraße 16-18
Die Tagung findet als Präsenzveranstaltung unter Einhaltung der geltenden Hygieneregeln in Berlin statt.
Die Platzzahl ist begrenzt, die Teilnahme ist kostenlos. Die Räumlichkeiten sind barrierefrei.
Die Abendveranstaltung findet im Hybridformat statt und wird gestreamt.
Um Anmeldung bis 31.10. für die Präsenztagung wird gebeten:
Email: j [dot] wilson [at] campus [dot] tu-berlin [dot] deWeitere Informationen finden Sie unter "Download" sowie auf der Tagungswebseite.