Empfehlung Lebensbericht

Anonyma – Eine Frau in Berlin

Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945

Anonyma. Eine Frau in Berlin, erschienen im Eichborn Verlag (Bd. 22 der Anderen Bibliothek) mit einem Nachwort von Kurt W. Marek, Frankfurt am Main 2003 (Gebundene Ausgabe, 291 S., 27,50 €). Die Verfilmung des Buches kam am 23. Oktober 2008 mit Nina Hoss in der Titelrolle in die Kinos.

Mehr als sechzig Jahre danach haben die Aufzeichnungen der namenlosen Autorin, einer jungen, ca. 30-jährigen Frau über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in Berlin nichts von ihrer erschütternden und aufwühlenden Wirkung verloren. Im Gegenteil, gleiche traumatische Erfahrungen mit Gewalt und massenhaften Schändung durch eine entfesselte Soldateska mussten auch zahllose Frauen im Balkankrieg in den 1990er Jahren machen.

Die Chronistin, die ungenannt bleiben wollte, berichtet von den letzten Kriegstagen Ende April 1945, dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin und den ersten Tagen des Neuanfangs im Chaos der zerstörten Stadt. Nüchtern bis sarkastisch, offen, ohne Selbstmitleid aber auch ohne Hass, sondern reflektiert, mit unerschütterlichem Überlebenswillen und zugleich beeindruckender Sensibilität für andere schildert und kommentiert sie das Inferno um sie herum, die Erfahrungen mit Willkür und roher Gewalt, die eigenen Empfindungen von Hunger, Angst und Ekel.

In drei aus der zerstörten Wohnung geretteten Schulheften notierte sie täglich, was ihr und anderen um sie herum während des Tages und der Nacht geschah. Ab Juli 1945 schrieb sie das handschriftliche Manuskript aus den Heften und losen Merkzettel für einen ihr nahestehenden Menschen mit einer Schreibmaschine engzeilig auf 121 Seiten Kriegspapier ab. Dabei nahm sie jedoch nur geringfügige Korrekturen und Ergänzungen vor, indem sie aus Stichworten Sätze formulierte, Andeutungen durch erinnerte Beifügungen verdeutlichte.

Mindestens 100.000 Frauen wurden im Frühjahr 1945 in Berlin von russischen Soldaten vergewaltigt. Dieses Schicksal widerfuhr auch der Tagebuchschreiberin, einer vielgereisten, gebildeten Frau, von der man erfährt, dass sie auch fotografierte und hinreichend die russische Sprache verstand und sprach, um sich selbst zu verständigen und anderen Menschen in ihrem Haus zu als Dolmetscherin in der Not zu helfen.

Wer erfahren will, wie es wirklich war, wird sich an die Frauen halten müssen. Denn die Männer haben sich in den Ruinen als "das schwächere Geschlecht" gezeigt, so das Urteil der Verfasserin dieses Berichts. Nicht das Ungewöhnliche schildert sie, sondern das, was Millionen von Frauen erlebten: zuerst das Überleben in den Trümmern, ohne Wasser, Gas und Strom, dann die Rache der Sieger.

Die Geschichte von den Aufzeichnungen bis zur Buchveröffentlichung 2003, der Taschenbuch und Hörbuchausgabe 2008 sowie der aktuellen Verfilmung Film Buches ist für sich bereits eine aufschlussreiche Geschichte über den Umgang mit dieser Thematik. Erst Anfang der 1950er Jahre  bekam der Sachbuchautor Kurt W. Marek, alias C. W. Ceram ("Götter, Gräber und Gelehrte"), ein naher Bekannter der Autorin, die Aufzeichnungen zu lesen und erkannte ihre zeitdokumentarische Bedeutung.

Er ermutigte die Verfasserin zur ersten Veröffentlichung und stellte Verbindungen zu Verlegern her. 1954 kam in New York die amerikanische, 1955 die britische Ausgabe heraus. Es folgten Übersetzungen in weitere neun europäische Sprachen, und sogar ins Japanische, obwohl die Vergewaltigungsverbrechen der kaiserlichen japanische Armee im Zweiten Weltkrieg in der japanischen Gesellschaft lange tabuisiert waren. Die erste deutsche Ausgabe erschien erst 1959 in dem Genfer Kossodo Verlag, blieb aber damals weitgehend unbeachtet.

Die verständnisvollen Reaktionen auf das Buch vor allem im Ausland und der zeitliche Abstand ließen die Autorin einer erneuten Veröffentlichung der Tagebücher nach ihrem Tod zustimmen. Doch blieb ihre Bedingung der zu wahrenden Anonymität und der Veränderung von Eigennamen sowie Einzelheiten bestehen, die Identifizierungen erlaubt hätten, denn nach dem Erscheinen ihres Berichts Ende der 1950er Jahre auf Deutsch war sie in ihrem persönlichen Umfeld schweren Anfeindungen ausgesetzt gewesen.

Die Neuausgabe in der Anderen Bibliothek 2003 wurde zu einem der größten Bucherfolge der Saison. Die lange funktionierende "conspracy of silence", das Tabu massenhafte Vergewaltigungen deutscher Frauen 1945 durch Soldaten der Roten Armee zu thematisieren war bereits gebrochen durch den Dokumentarfilm Freier und Befreite im Jahr 1992 von Helge Sander. Dieser Film stellte grundsätzliche Fragen zum Verbrechen der Vergewaltigung von Frauen in Kriegszeiten, polnischen, russischen, ukrainischen Frauen, Verbrechen an Frauen in anderen Kriegen und Kriegszeiten generell. In der Presse wurde daher die Neuausgabe der Tagebuchaufzeichnungen „Eine Frau in Berlin“ kontrovers diskutiert mit Spekulationen über die Authentizität des Textes sowie die Identität der Autorin. Kritisiert wurden Verlag und Herausgeber dafür, eine „historisch und textkritisch unzureichende“ Edition veröffentlicht zu haben.

Der Schriftsteller Walter Kempowski, erfahrener Archivar von Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg (Echolot) wurde vom Verlag als Gutachter beauftragt und bescheinigte die Echtheit der Tagebücher. Es blieb dem Journalist Jens Bisky vorbehalten, seine Kritik an der angeblich „schlampigen Edition“ in einem ganzseitigen Artikel der Süddeutsche Zeitung (vom 24. September 2003) mit der Enthüllung der Anonymität und persönlichen Diffamierungen der Tagebuchverfasserin als „belangloser Person“ zu verbinden, selbst dabei journalistische Sorgfalt außer acht lassend. Dass auch für die Taschenbuchausgabe weiterhin den Wunsch der verstorbenen Autorin respektiert wurde, anonym zu bleiben, bleibt anerkennenswert.

Zur unterrichtlichen Auseinandersetzung mit der Thematik und dem Text als historische Quelle eignen sich Auszüge aus Anonyma „Eine Frau in Berlin“ ab der 11. Jahrgangsstufe. Empfehlenswert ist dazu auch die Einbeziehung der 1996 erschienenen Kriegstagebücher von drei anderen Berliner Frauen: Angela Martin / Claudia Schoppmann (Hrsg.): "Ich fürchte die Menschen mehr als die Bomben." Eine Dokumentation, herausgegeben im Auftrag der Berliner Geschichtswerkstatt e.V. (Metropol Verlag- Reihe Dokumente, Texte, Materialien, Bd. 19) 140 Seiten, Berlin 1996 - ISBN 3-926893-30-3 - Preis: 12,– Euro

Drei Berliner Frauen legen in ihren Tagebüchern Zeugnis von der Diskriminierung und Verfolgung während des Nationalsozialismus ab. Erna Becker, Cäcilie Lewissohn und Marta Mierendorff waren in unterschiedlicher Weise von der Judenverfolgung betroffen. Der Band enthält neben den Tagebüchern eine Einführung in den geschichtlichen Zusammenhang, Kurzbiographien der drei Autorinnen und eine Chronik der Judenverfolgung.

Schulvorstellungen sind ab Start möglich. Allerdings möchten die Lehrer und Pädagogen sich direkt mit den Kinos in Verbindung setzen oder gerne auch an education GmbH wenden. Diese verschickt das "Seminar und Unterricht begleitende Material zum Film" an Lehrerinnen und Lehrer bundesweit und kennen auch die Kinos in welchen der Film startet. Die Email- Adresse ist: anonyma [at] education-gmbh [dot] de

 

Kommentar hinzufügen

CAPTCHA
Diese Frage dient der Spam-Vermeidung.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.