Empfehlung Fachbuch

Das letzte Tabu

Wolfram Wette, Detlef Vogel (Hg.): Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat. Mit einem Vorwort von Manfred Messerschmidt. (2007) Aufbau Verlagsgruppe Berlin, 511 S., 32 Abb., 24,95 €

Im Mai 2002 rehabilitierte der Deutsche Bundestag pauschal die Deserteure der Wehrmacht, "Kriegsverräter" sparte er aus. Was der Begriff "Kriegsverrat" beinhaltet, weiß heute niemand mehr, nicht einmal Juristen. Die Nazis haben ihn nicht erfunden. Er stammt noch aus dem 19. Jahrhundert, aber in der NS-Zeit wurde er mit schwammigen Formulieren ausgedehnt und dafür meist die Todesstrafe verhängt.

Nach dem NS-Kriegsverrats-Paragraphen von 1934 konnten die unterschiedlichsten Formen der Abweichung von Vorschriften und widerständiges Verhalten verfolgt werden. Kriegsverrat galt als Landesverrat und Feindbegünstigung. Jede Handlung oder nur Gesinnung bzw. Meinungsäußerung die der NS-Ideologie zuwiderlief, galt als Verrat an der Volksgemeinschaft, Landes-, Wehr-, Wirtschafts-, Rassen- oder Kriegsverrat und sollte mit dem Tode bestraft werden.

Das Militärstrafrecht, das im Zweiten Weltkrieg mehrmals verschärft wurde, lieferte die Angeklagten zunehmend der Willkür der Wehrmachtskommandeure aus, die als Kriegsrichter fungierten. Einflussreichster Kommentator des NS-Militärstrafrechts war der Jurist Erich Schwinge, der 1944 noch als strafbare Handlung "im Krieg gegen Russland jegliche Unterstützung der Ziele des Bolschwismus" hinzufügte. Schon jede sozialistische, kommunistische oder pazifistische Gesinnung, mündlich oder schriftlich geäußert oder ein Kontakt zu einem russischen Kriegsgefangenen oder Hilfe für verfolgte Juden konnte somit als Kriegsverrat gewertet und mit dem Tode bestraft werden.

Jener Militärstrafrechtler und "fürchterliche Jurist" Erich Schwinge (1903-1994) war trotz seiner NS-Karriere an den Universitäten von Marburg und Wien sowie als Kriegsrichter, der Todesurteile zu verantworten hatte, nach 1945 wieder an der Universität Marburg Ordinarius, avancierte zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der FDP und hatte 1955/56 das Amt des Rektors der Universität inne.

Die Autoren legen in den Einleitungskapiteln zu den in dem Band dokumentierten 33 Urteilen der NS-Militärjustiz prägnant dar, wie zählebig sich in der Öffentlichkeit, der Justiz und bei Politikern bis heute die Vorurteile gegenüber den Opfern des Kriegsverrats-Paragraphen gehalten haben. Überzeugend plädieren sie mit Verweis auf die erfolgte wissenschaftliche Aufarbeitung dafür, die wegen "Kriegsverrats" Verurteilten nicht länger auszugrenzen.

Die meisten der nach diesem Paragraphen verurteilten Wehrmachtsoldaten waren kleine Leute in Uniform, die, ähnlich wie die Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und Wehrkraftzersetzer, Widerstand gegen Hitler und den Vernichtungskrieg zu leisten versuchten. Einige von ihnen gingen in bewaffnete Widerstandsgruppen, andere fielen durch oppositionelle Gesinnung auf. Eine Kollaboration mit den Kriegsgegnern Deutschlands war den wenigsten möglich.

Nicht selten entstand das Delikt "Kriegsverrat" erst in den Köpfen der Kriegsrichter. Sie konstruierten aus widerständigen Handlungen eine Begünstigung des Feindes. Diese Dokumentation ist ein Appell an den Gesetzgeber, heißt es im Vorwort, endlich auch die Urteile wegen Kriegsverrats aufzuheben und die Opfer zu rehabilitieren.

Zu den Herausgebern: Wolfram Wette, geb. 1940, ist Historiker und seit 1998 Professor an der Universität Freiburg, Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung. Zahlreiche Bücher über die NS-Zeit. Lieferbar: "Recht ist, was den Waffen nützt", "Schule der Gewalt", Detlef Vogel, geb. 1942, ist ebenfalls Historiker, Mitarbeiter u.a. des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen. Beide Wissenschaftler sind durch ihre jahrelange Forschungstätigkeit am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg sowie zahlreiche wissenschaftliche Publikationen ausgewiesene Experten für die Thematik Militär und Gesellschaft in der Neuzeit.

 

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